Ausstellungen zur Designgeschichte

form+zweck sah 1986 im Ausland

in Budapest:
Lélek és forma (Seele und Form)
Ungarische Nationalgalerie, März/April

Die ungarische Kunst von 1896 bis 1914 war aufgeboten worden – in einer Pracht und Fülle ausgebreitet, wie sie zugleich so dicht zusammengefaßt noch niemals vorgeführt worden war. Über 1.300 Werke der Architektur, der bildenden Kunst, des Kunstgewerbes und der Buchkunst, ergänzt durch Zeugnisse der benachbarten Künste Literatur, Musik, Film und Theater, weist der Katalog aus.
In den Mittelpunkt der Ausstellung (ihren Titel stiftete ein Georg-Lukács-Zitat) waren vor allem die Leistungen gestellt, die anläßlich der pompösen ungarischen Millenniumsschau 1896 und der für Ungarn so erfolgreichen Pariser Weltausstellung im Jahre 1900 entstanden – Werke des mit der Wiener Sezession verschwisterten ungarischen Jugendstils, die in vielen Fällen seither nie wieder öffentlich zu sehen waren, wie Details des seinerzeit Aufsehen erregenden historischen Panoramagemäldes von Árpád Feszty aus der Budapester Millenniumsausstellung von 1896, Ferenc Eisenhuts Monumentalgemälde von1897, das den Huldigungsumzug zur 1000-Jahr-Feier darstellt, vor allem aber auch die Modelle von geplanten Jugendstilbauwerken wie dem 1910 entworfenen Wasserturm für Kecskemét (von Ödön Lechner, dessen Arbeiten wie kaum andere – auch in dieser Ausstellung – für den ungarischen Jugendstil standen) bzw. von realisierten Entwürfen wie dem Tor der Pariser Weltausstellung von 1900 oder Budapester Bauten und städtebaulichen Anlagen, die heute noch das Gesicht der Stadt prägen.[paycontent]
Bereits der Eintritt in die Ausstellung stimmte auf ,,totales Kunstmuseum “ ein: er erfolgte durch die frappierend echt vorgetäuschte Nachbildung des imposanten Jugendstil-Eingangskuppelbaus zum einstigen ungarischen Pavillon der internationalen Turiner Kunstgewerbeausstellung 1911. ,,Seele und Form“ bekannte sich von vornherein als Kunst-Ausstellung und bot da auch eine schier berauschende Erlebnisfülle. Die gezeigten Kleinplastiken, Miniaturreliefs und Plaketten, unter anderem von Moiret, Pangrácz, Senyel und Sidló, die Sammlung der Grafikarbeiten (darunter die schönsten Blätter von Sarkady) oder die Abteilung mit Gebrauchsgrafik wären bereits für sich zweifellos Publikumsmagnete gewesen, ganz zu schweigen vom ausgestellten kunsthandwerklichen Reichtum. Industrielle Serienerzeugnisse des Jugendstils hingegen tauchten eher als Beiläufigkeiten auf – so waren in den Rundgang gelegentlich Original-Flügeltüren und -Lampen integriert; ein Extrakabinett zeigte wenigstens einige der Prachtstücke, die in kleinen Serien einst aus der berühmten Möbelfabrik Endre Thék kamen bzw. in größeren Serien, schlichter, aber nicht unansehnlicher gestaltet, für eine breite bürgerliche Mittelschicht modifiziert worden waren.
Der Ausstellungsrundgang war ganz auf ,,reinen “ Kunstgenuß angelegt – nicht ohne Kurzweil, die durch historische Film-, Dia- und akustische Einlagen geboten wurde. Er fand am Ende der Schau seinen jähen Abbruch: angesichts dort aufgereihter martialischer Kartuschen, denen kunsthandwerkliche Launigkeit mittels Verzierungen und sanfter Deformierungen zu neuen Funktionen als patriotische Blumenvasen und Pokale zu verhelfen wußte. 1914 war das Jahr des Weltkriegs-Ausbruchs…
Zur Ausstellung erschien ein Katalog, der mit seiner Sammlung wissenschaftlicher Aufsätze einen wesentlichen eigenen Beitrag zu ,,Seele und Form“ leistet: Er ergänzt (in Ungarisch und Englisch) die Kunst-Übersicht durch hochinteressante historische Fakten aus der politischen und wirtschaftlichen Entwicklung Ungarns um die Jahrhundertwende, deren Kenntnis man sich schon vor dem Betreten der großen Ausstellung gewünscht hätte, wenigstens aber während des Rundgangs in komprimierter Form auf entsprechenden Schrifttafeln. Der Katalog belegt, was aus dem Gang durch die Ausstellung allein nicht so klar als Erkenntnis erwuchs: daß auch der Jugendstil in Ungarn eine gestalterische Revolte war, ein Ausbruchsversuch aus der Klemme zwischen massenhaften und tiefgreifenden technischen Entwicklungen (mit ihren technischen Gestaltprägungen) in Industrie und im Verkehrswesen einerseits und andererseits satturierter, überschwellender monarchistisch-nationalistischer Kunst, wie sie zur 1000-Jahr-Feier Ungarns ihren Gipfel erreichte.
…in Helsinki:
Phänomen Marimekko
Museum der angewandten Künste,
September

Das Museum, international lange bekannt wegen seiner hervorragenden ständigen Ausstellung historischer Zeugnisse finnischer Gewerbekultur und wegen der Ausrichtung stets gediegener thematischer Sonderschauen, warb für ,,Phänomen Marimekko“ mit der Versicherung, selten eine so faszinierende Ausstellung beherbergt zu haben. Das heute weltberühmte finnische Textil-und Modeunternehmen Marimekko ist erst 1951 gegründet worden von der 1979 verstorbenen vielseitig begabten Gestalterin und Managerin Armi Ratia. Seine Erzeugniskultur heute ist geprägt von hochwertigen Druckstoffen und Bekleidung jeder Art über Tapeten, Bürobedarf und lückenlos komplex durchgestaltetes Design für den gedeckten Tisch bis zu perfektem corporate identity, einschließlich vorbildlicher Produktionsstätten und Verkaufseinrichtungen. Das Erfolgsgeheimnis von Marimekko liegt einerseits in der konsequenten langjährigen Förderung und Forderung seines Gestalterpotentials, andererseits (und damit im Zusammenhang) in der steten Offenheit des Unternehmens gegenüber künstlerischen und technologischen Anregungen im weitesten Sinne: Marimekko ließ und läßt sich sowohl von finnischer und internationaler Folklore und Alltagskultur inspirieren als auch von moderner Architektur und Kunst, beruft sich namentlich auf geistige Paten wie Le Corbusier, Mies van der Rohe, aber auch auf Mondrian, Matisse, Chagall, Munch, Klee, Picasso, Vasarely und Warhol.
Die Ausstellung spiegelte das in elf Abteilungen wider: Die ästhetischen Ursprünge von Marimekko; Das in sich Konträre bei Marimekko ; Das Utopische bei Marimekko; Marimekko als Lebensstil; Die Hauptthemen von Marimekko; Marimekko-Evergreens; Die ,,anderen“ Ausstellungen von Marimekko; Die Marimekko-Grafik; Die Marimekko-Fotografie; Die Marimekko-Lizenzpolitik; Armi Ratia und die Gestalter der Firma.
Unmöglich, auf eng bemessenem Raum die Faszination des Gezeigten detailliert zu schildern und zu begründen. Überraschend war jedenfalls, daß die Ausstellung an keiner Stelle in lästige Firmen-Lobhudelei auswuchs, nicht pro domo konzipiert war. Durchgängig vermittelte sie bei detailliertem Einblick in die Design-, Produktions- und Distributionspolitik des Unternehmens den jeweilig herrschenden allgemeinen Zeitgeist. Ein Produktionsjahr von Marimekko war immer auch – minutiös in Daten und Bilddokumenten ausgewiesen – ein Jahr der Weltpolitik, der Wirtschaft und der Kultur. Hervorgehoben werden muß, daß der Persönlichkeit des Designers bei Marimekko von Anfang an höchster Stellenwert eingeräumt wird: In der Ausstellungsabteilung, die das Gestalterteam vorstellt, sind neben den Traditionsträgern aus den fünfziger und sechziger Jahren gleichberechtigt auch die ganz jungen Designer mit ihren Kreationen vertreten, darunter Hochschulabsolventen von 1983 und1984.
Marimekko ist ein ausgesprochen farbenfreudiges und transparentes Unternehmen. Diese international einschlägig bekannte Tatsache erwies sich auch am ausgestellten Modell des Fabrikneubaus von 1973, ebenfalls einem hauseigenen Projekt.
Der Aufwand für die Ausstellung war immens, aber effektiv, einen Abglanz davon gibt, im drucktechnisch voll ausgeschrittenen Rahmen seiner Möglichkeiten, der zur Ausstellung erschienene Katalog. ,,Phänomen Marimekko“ sollte nicht nur unter Finnen zu sehen sein. Das meinten auch die Veranstalter, und sie verwiesen darauf, daß die Ausstellung durchaus für Präsentationen im Ausland konzipiert sei …

…in Berlin (West):
Der vorbildliche Architekt
Mies van der Rohes Architekturunterricht 1930-1958 am Bauhaus und in Chicago
Bauhaus-Archiv Berlin (West)
und
Mies van der Rohe 1886-1969
Ausstellung zum 100. Geburtstag
Neue Nationalgalerie Berlin (West), November/ Dezember

Beide Ausstellungen – nur durch zehn Minuten Fußweg voneinander getrennt – waren nicht zufällig parallel ausgerichtet worden. Wobei die äußerlich repräsentativere in der Westberliner Neuen Nationalgalerie, in Mies‘ ,,eigenem Haus“ sozusagen, zweifellos der stärkere Magnet war.
Zunächst aber zur Ausstellung im Bauhaus-Archiv. Von Mies selbst präsentierte sie lediglich eine Handvoll Entwurfszeichnungen und legte in der Tat viel mehr Wert darauf, die Ordnung, die Logik der Lehre Mies van der Rohes zu zeigen, einer Lehre, die Disziplin, ästhetische Klarheit, handwerklich-technisches Interesse, Proportions- und Materialempfinden ausbildete (und bekanntlich Ansätze dessen bei den Schülern allerdings auch voraussetzte).
Die gezeigten rund 200 Zeichnungen, Modelle und Fotodokumente traten den immer wieder überwältigenden Beweis für die Leistungsmotivation an, die von Mies ausgegangen sein muß. Ob es um das perfekte Beherrschen der doch eher scholastisch anmutenden Pflicht des gestochenen Freihandzeichnens nach architektonischen Originalen ging oder um anspruchsvolle komplexe moderne Bebauungslösungen – wer Mies‘ Forderungen folgte, folgte ihnen scheinbar kompromißlos. ,,Der vorbildliche Architekt mit seinem persönlichen Stil erweist sich dabei nur allzu oft auch als geradezu übermächtig“, wie Peter Hahn im Vorwort des umfangreichen Katalogs zur Ausstellung einräumt. Allenthalben begegnete man also auch ,,kleinen Mieses“ – in den USA wie schon am Bauhaus in Dessau zumeist durch Ludwig Hilberseimer auf den Meister vorbereitet, fortgeschritten dann durch diesen selbst übernommen und zu den höheren Weihen der Baukunst geführt…
Hilberseimer hieß übrigens in der Neuen Nationalgalerie Hilbersheimer. Solch kleiner Schönheitsfehler vermochte freilich am ausgebreiteten edlen Gesamtbild von Mies van der Rohes Lebenswerk nichts zu verderben: Es war so gut wie alles vertreten, was sich mit dem Namen verbinden läßt: Zeichnungen, Fotos und Modelle zu etwa 45 Projekten aus sechs Jahrzehnten, darunter solch imposante Originalblätter wie die etwa 3 Meter breiten und 1,50 Meter hohen Zeichnungen zum ,,Bürohaus aus Eisenbeton, 1922″ und zum ,,Landhaus aus Eisenbeton,1923″.
Die Kommentierung in der chronologisch geordneten Ausstellung hielt sich vornehmlich im Rahmen freundlicher Belehrung für ein ,,Laufpublikum“ der Galerie, übersprang aber doch hin und wieder diese selbstbestimmte Schranke und bot polemischen Ansatz. Weniger bezüglich Mies van der Rohes selbst, sondern mehr in aktuelle Architektur- und Gestaltungsprozesse eingreifend. So war gleich zu Anfang das Statement des Leihgebers, des Direktors der Abteilung für Architektur und Design des Museums of Modern Art, New York, Arthur Drexler, zu lesen: ,,Seit Beginn der 60er Jahre wurde deutlich, daß sich eine Gegenbewegung gegen die Architektur der Moderne artikulierte – vor allem gegen den übermächtigen Einfluß Mies van der Rohes. Mies erkannte die Gegenbewegung und reagierte auf sie mit Ratlosigkeit und Enttäuschung. Der postmodernen Architektur geht es um Probleme, die unser Verhältnis zur Geschichte betreffen, und sie wird sicher noch bedeutende Werke hervorbringen…“ Ganz anders dagegen die Überzeugung, die George Danforth, Schüler und Nachfolger Mies van der Rohes am Illinois Institute of Technology in Chicago, vor dem Publikum zur Ausstellungseröffnung im Bauhaus-Archiv aussprach: Der Einfluß Mies‘ auf die nordamerikanische Architektur heute sei immer noch sehr stark, und im Sich Durchsetzen gegen die verschiedenen aktuellen, vor allem postmodernistischen Strömungen, wirke er wie ehedem streitbar und kämpferisch durch die funktionalistischen Nachfolger (nicht Nachahmer).
So gesehen lagen zwischen den Standorten der beiden Ausstellungen mehr als zehn Minuten Fußweg – und wurde der Beweis einmal mehr erbracht, daß Mies van der Rohe immer noch Streit wert ist.
(Alle genannten Kataloge stehen in der Fachbibliothek des AIF zur Verfügung.)

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Günter Höhne
(Neben der Budapester Schau werden „Phänomen Marimekko“ in Helsinki sowie zwei Ausstellungen in Westberlin zum 100. Geburtstag Ludwig Mies van der Rohes besprochen – veröffentlicht in form+zweck 1/1987; in alter Rechtschreibung belassen)

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