Design, das unter die Haut geht

Die heute Sechzig- und Siebzigjährigen erinnern noch sehr lebhaft, was Ihnen widerfuhr in ihren Kinder- und Jugendjahren, wenn der Gang zum Zahnarzt unaufschiebbar geworden war: Da lehnten (nicht lagen) sie in altväterlichen Behandlungsstühlen, nahmen mit Entsetzen das vor ihnen ausgebreitete rustikale Dentistenwerkzeug-Arsenal wahr, und Angstschweiß perlte auf der Stirn, noch ehe die Behandlungstortur begann. In Ostdeutschland blieb dies verbreitet Standard bis in die Achtzigerjahre hinein, erst die Wiedervereinigung trug hier eine breite friedliche Revolution über die Türschwellen der Praxen. Seither vervollkommnen sich stetig allüberall die technischen, physiologischen und psychologischen Eigenschaften der zahn- und kiefermedizinischen Behandlungsstätten, die einstigen Schreckenskammern mutierten zu komfortablen Hightech- und HiFi-Studios mit softer Klangberieselung, die sich zum Flüstern der Ultraschallbohrer und Polier-Rotoren gesellt, und an der Deckenwand breitet eine Südsee-Strandansicht milde Stimmung über den entspannt liegenden Patienten aus. Sogar das Zahnbürstendesign zog mit und hat heute in seinen Innovationszyklen längst die von Automobilmarken überholt.

Schwerer tat sich hingegen lange Zeit der Gestaltungsfortschritt in OP-Sälen und auf den Krankenhausstationen. Hier bestimmten noch lange technisch-ästhetische Askese, pure Funktionalität, kantige Modularität, Kabel- und Schläuche-Chaos die Szenerie, herrschten Konstrukte als Ding an sich (und nicht am Menschen) vor. [paycontent]Kakophonie statt Genesung befördernder Harmonie, wie sie doch ansonsten etwa das Verpackungs- und Grafikdesign von Medikamenten (und mögen sie auch noch so hammerhart sein) oder auch medizinischen Hilfsmitteln und Instrumenten vermitteln. Apropos Harmonie: Design ist Komposition. Die gestaltete gegenständliche Menschenumwelt muss genauso wenig „übersetzt“ werden wie Musik, vermittelt sich objektiv und subjektiv ganz direkt, über Erfahrung in der Aneignung. Medizinisches Gerät ist in diesem Konzert die Kammermusik: ist ganz nahe am Menschen, im wörtlichen Sinne hautnah. Routine, Schludern beim Komponieren und Interpretieren kann hier für den Entwerfer und Produzenten zur schmerzvollen Erfahrung beim Publikum, sprich auf dem Markt werden – und für den Patienten lästig, quälend, schlimmstenfalls tödlich.

Lange hat es gedauert, bis zum Beispiel die Hersteller von Dialysegeräten darüber nachdachten, ob diese aus kantigen Bauteilen zusammengestöpselten Maschinen nicht menschenfreundlicher, menschennäher gestaltet werden sollten und so auch in ihrer Erscheinungsgestalt dem von ihr regelmäßig abhängigen Patienten als Partner „zur Seite stehen“. In der DDR, im Messgerätewerk Zwönitz, war 1988/89 eine solche „menschliche“ künstliche Niere, die KN 501, serienreif und erhielt die staatliche Auszeichnung „Gutes Design“. Ihre freundliche Gehäusekonstruktion war zudem so angelegt, dass die beiden Polyurethan-Halbschalen auch andere Medizin-Messtechnik hätten aufnehmen können, wie EKG oder auch komplexe Unter-der-Geburt-Kontrollinstrumentarien. Die Produktion im erzgebirgischen Zwönitz musste 1990 eingestellt werden, weil die ostdeutschen Krankenhäuser mit den im Westen auf Lager stehenden „modernen“ Kastenkonstruktionen versorgt wurden. Heute ist die KN 501 im Dresdner Deutschen Hygienemuseum zu sehen, dessen Dauerausstellung auch einen repräsentativen Querschnitt durch die Geschichte des Medizintechnik-Designs bietet.

Günter Höhne[/paycontent]

(Einführungsbeitrag in das Heft-Schwerpunktthema „Design und Medizingerät“ im Heft 6/2009 von Design Report – Design Report, Heft 6/2009)

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