Frohe Botschaft vom Telegraphenberg

Genesen, aber nicht geheilt: Patient Einsteinturm

Von Günter Höhne
Immer war Erich Mendelsohns Einsteinturm auf dem Potsdamer Telegraphenberg ein Anziehungspunkt für Architektur-Touristen. Zu DDR-Zeiten nur mit Sondergenehmigung in Augenschein zu nehmen, wurde das auch im buchstäblichen Sinne herausragende expressionistische Baudenkmal nach der Wiedervereinigung Berlins mit seinem brandenburgischen Umland erneut ein allgemein zugängliches Mekka für Freunde der frühen Moderne des 20. Jahrhunderts. Bis vor zwei Jahren jedenfalls.
Wer seither aufs Geratewohl dorthin wanderte, erlebte oben auf dem Berg sein (hell)blaues Wunder: Anstelle des Turmes fand er – tatsächlich ein wenig an die Bilder von Mekkas Kaaba erinnernd – lediglich einen Kubus aus Bauplanen vor. Mendelsohns Turmbau zu Potsdam war vollständig eingehaust – das architektonische Wunderwerk leider zu einem traurigen Wundenwerk geworden. Obwohl anläßlich Albert Einsteins 100. Geburtstag 1978 schon einmal umfassend grundsaniert, wies eine Schadenskartierung zwanzig Jahre später abermals zahlreiche Risse und großflächige Abplatzungen in der Außenhaut auf. [paycontent]
Nun endlich sind die Gerüste gefallen, und der legendäre wie immer noch als wissenschaftliches Sonnen-Observatorium volltaugliche Bau konnte am 1. Juli seiner fast 75jährigen Bestimmung als „Haus-Instrument“ des Astrophysikalischen Instituts Potsdam (AIP) wieder übergeben werden. Auch für Besucher ist er empfangsbereit. Die, so sie ihm früher schon einmal gegenübergestanden haben oder ihn von Abbildungen her kennen, werden freilich abermals ein Wunder erleben, aber diesmal eines in Hell-Ocker. In diesem Farbton nämlich und nicht im gewohnten Weiß präsentiert sich jetzt die weltweit berühmte Ikone expressionistischer Architektur. Waren hier Denkmalfrevler am Werke?
Mitnichten. Christine Hoh-Slodczyk von der mit der Reparatur des Bauwerks betrauten renommierten Berliner Werkstatt für Architektur und Denkmalpflege Pitz & Hoh: „Als wir im Herbst 1998 im Zuge der Baumaßnahmen Verblendungen des Turmes mit Bleiblechen wegnahmen, entdeckten wir unter dem Nordfenster des Kuppelkranzes Reste des einstigen Original-Mendelsohn-Spritzgusses von 1924 – eben in jenem Ockerton. Bei der ersten, bereits 1927/28 notwendig gewordenen Generalreparatur des Gebäudes hatte man die gesamte Spitzgußverkleidung abschlagen müssen und an ihrer Stelle einen Anstrich in gleichem Farbton aufgetragen. Sein ,bekanntes’ weißes Kleid erhielt der Turm erst 1950 bei der baulichen Wiederherstellung des bombengeschädigten Gebäudes. Wir haben nun den übrigens auch dokumentarisch eindeutig belegten farblichen Urzustand wiederhergestellt.“
Als einen „gebauten Bauschaden“ bezeichnet Christine Hoh-Slodczyk nach zwei Jahren nüchterner, akribischer Analyse- und Reparaturarbeit Mendelsohns expressionistisches Architektur-Kleinod. Und Helge Pitz, dessen Team sich bereits Lorbeeren bei solchen anspruchsvollen Berliner Baudenkmal-Instandsetzungsgroßprojekten wie der Siedlung Onkel Toms Hütte, der Britzer Hufeisensiedlung oder in Siemensstadt erwarb, schildert eines der Hauptprobleme des Einsteinturms so: „Der Körper des anmutigen, scheinbar aus einem (Beton-)Guß gefertigten Baus besteht in Wahrheit aus einem Gefüge halb aus Beton, halb aus Mauerwerk, und die in das Gesicht des U-Boot-förmigen Hauses tief eingeschnittenen Fensteraugen saßen mit ihren Holzrahmen auf Stahlträgern unmittelbar im Stein. Damit waren die Defekte vorprogrammiert. Schon 1927 hatte Mendelsohn ein Schadensbild zur Kenntnis nehmen müssen, wie es seitdem in regelmäßigen Abständen von etwa 10 Jahren immer wieder auftrat: aufsteigende Feuchtigkeit, vielfältige Rissebildung, abfallender Putz, Undichtigkeit der Treppe und der Terrasse und anderes mehr.“
Mehrfach in den folgenden siebzig Jahren mußte „der Dauerpatient Einsteinturm“, wie ihn Pitz sorgen- und liebevoll bezeichnet, operiert werden. Besonders in Mitleidenschaft gezogen wurde er durch besagte Kriegswunden, die ihm im Februar 1945 ein alliierter Bombenangriff auf den Telegraphenberg zufügte.
Buchstäblich jeder Quadratzentimeter des berühmten Gebäudes ist mittlerweile (und erstmals in seiner Geschichte) akribisch untersucht und kartiert worden, begleitet von bauphysikalischen, tragwerksplanerischen und restauratorischen Tiefenuntersuchungen und archivalischen Recherchen. Verläßliche Erkenntnisse über die Erhaltbarkeit und Ergänzung der Materialien wurden gewonnen, über die Sanierung des Betons, die Überbrückung der Übergänge Beton–Mauerwerk und viele andere mehr.
Und dann, als man so richtig loslegen wollte mit der Renovierung, jener Schock im Januar 1998: Beim Auszug von Handwerkern aus dem Gebäude war es zu einem Verpuffungsbrand gekommen. Pitz: „Als wir per Handy davon hörten, rasten wir sofort zum Telegraphenberg. Unsere größte Sorge war, als wir hörten, daß keine Menschen zu Schaden gekommen waren: Hat das Original-Holzgerüst standgehalten, das die fünf Tonnen schwere Last des Instrumenten-Untergestells im Turmkopf trägt?“ Es hatte, glücklicherweise, denn unter den nun abgefackelten Farbschichten war ein Brandschutzanstrich aufgetragen. Der Turm innen aber zeigte sich pechschwarz, vollständig mit einer dicken Rußschicht bedeckt. „Es war die Hölle“, sagt Pitz.
Dank der völlig neuartigen Technik „Trockeneis-Verfahren“ konnte das Innere dann doch relativ unkompliziert wieder gesäubert werden. Den Architekten und den Bauherren ist die Erleichterung noch heute anzusehen, werden sie darauf angesprochen. Besonders glücklich zeigen sich Pitz und Hoh aber darüber, „daß die jetzige Instandsetzung des Einsteinturmes so umfassend und vorausschauend vorgenommen und gleichzeitig von A bis Z dokumentiert werden konnte, daß sich darauf nun ein solider Denkmalpflegeplan aufbauen läßt. Denn: zwar sind jetzt die Gerüste gefallen, geheilt ist der Patient jedoch nicht. Aber wir können ihm nun einen gezielten, kontinuierliche und fachgerechte Behandlung gewährleistenden Wartungs-Kurs ins kommende Jahrhundert mitgeben.“
Apropos Bauherren: Fast drei Millionen Mark kosteten das tiefgründige Lifting der Außenhaut und die Renovierung des Inneren, und weil dies die Landeskasse hoffnungslos überfordert hätte, steckte die 1990 gegründete Ludwigsburger Wüstenrot Stiftung im Rahmen ihres langfristigen „Denkmalprogramms neue Bundesländer“ einen Löwenanteil von zwei Millionen in das – wie sich herausstellen sollte – ungeahnt schwierige, überraschungsreiche Vorhaben und übernahm gemeinsam mit dem Astrophysikalischen Institut Potsdam die Bauherrenschaft.
Apropos Renovierung des Inneren: In der ersten Etage des berühmten astrophysikalischen „Laborhauses“ zeigt sich auch das Original-Büromobiliar von Mendelsohn wieder in seinem ursprünglichen dunkelgrünen Lackanstrich. „Wir hätten natürlich ebenso gern den Arbeitsraum im zweiten Stock mit diesen Tischen und Stühlen eingerichtet gesehen“, träumen Landeskonservator Detlef Karg und AIP-Sonnenphysiker Jürgen Staude. Aber die seien zu DDR-Zeiten, in den siebziger Jahren, allesamt „auf höheren Befehl“ aus dem Einsteinturm „entnommen“ (eher symbolisch habe man hundert Mark pro Stuhl „bezahlt“) und der „Designsammlung des Amtes für industrielle Formgestaltung“ in Berlin einverleibt worden. Dort stehen sie noch heute, in stumpfem Graublau überpinselt – im Depot der jetzigen „Sammlung industrielle Gestaltung“ im Ostberliner Stadtbezirk Prenzlauer Berg, und es sei bisher kein Herankommen (beziehungsweise kein Hereinkommen in den Einsteinturm) möglich gewesen. – In diesem Spätherbst feiert das AIP seinen 75. Geburtstag im Turmbau auf dem Telegraphenberg. Ein trefflicher Anlaß für die Berliner Designmuseumsleute, sollte man meinen, dem Jubilar die angestammten Sitze in den Stammsitz des deutschen Architektur-Expressionismus zurückzu(über)tragen.

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(Veröffentlichung in Mensch & Büro, 1999; in alter Rechtschreibung belassen)

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