Pyramide mit Schatzkammer und voller Leben

Ostsee-Schmuck GmbH und das Designatelier formbund setzten einen mittelständischen Erfolgsmeilenstein an der B 105

Dies gehört zu jenen gelebten Alltäglichkeiten des einstmaligen DDR-Sozialismus, die mit der Wirtschafts- und Währungsunion vor 10 Jahren schnell in Vergessenheit sind: das allgemein jämmerliche Angebot an Preziosen, ob pfiffigem Modeschmuck für jedermann/frau oder edlem Geschmeide für den festlichen Gesellschaftsauftritt. Als wären alle materiellen Ressourcen dafür restlos von der Ordens- und Abzeichenindustrie aufgesogen worden. Aber selbst da war es ja selten echtes Gold und Silber, was staatsfeiertags an Reverses und Uniformröcken blinkte. Und Jahrzehnte lang galt es als normal, dass junge DDR-Paare für die Anfertigung der Trauringe als Pflichtabgabe Omas altes Zahngold erbitten mussten.

Auch hochwertiger Silber-, Edel- und Bernsteinschmuck waren Luxus-Traumartikel. Glücklich konnte sich schätzen, wer mit solcherart Erbstücken beschenkt wurde. „Aus Apfelkernen und Nudelsternen hab‘ ich dir eine Kette mitgebracht“, ermunterte in den sechziger Jahren ein neckisches Schlagerliedchen den DDR-Bürger zur Selbsthilfe, die von der Partei gepredigte Masseninitiative in den volkseigenen Betrieben „Weltniveau aus einheimischen Rohstoffen“ für den Modeschmuckbereich aufgreifend.[paycontent]

Unter den wenigen kreativen Qualitäts-Schmuckherstellern glänzte der VEB Ostseeschmuck in Ribnitz-Damgarten mit ganz vornan. Als Exportlieferant vornehmlich. Für den „Bevölkerungsbedarf“ blieben nur knappe und meist nicht eben preisgünstige Reste übrig. Die nach der Wende aus dem VEB hervorgegangene mittelständische Ostsee-Schmuck GmbH fand sich nun hingegen in einem dicht besetzten und hart umkämpften Binnen- wie Weltmarkt wieder. Der hochmotivierte neue, aus dem Westen zugereiste Eigentümer, auf den beziehungsreichen Namen Helmut Spangenberg hörend und als Firmenchef und Investor immer vor Ort, konnte das Unternehmen aber nicht nur über Wasser halten, sondern seinem Ruf als traditionsreichem ostdeutschen Hersteller besonders für Bernsteinschmuck zunehmend Geltung auf dem Markt verschaffen.

Nicht zufällig ist inzwischen auch die renommierte westfälische Manufactum Produkt GmbH, bekanntlich ein besonders produktkulturell orientiertes Versandunternehmen, Stammkunde in Ribnitz-Damgarten. Das Firmenmanagement von Ostsee-Schmuck setzt nämlich vom ersten Tage an unbeirrbar auf den Markterfolgs-Faktor Design. Immer ein Quäntchen Kollektions-Kreativität und -Identität mehr als die Konkurrenz und eine dem angemessene, ebenso sichtbar wachsende Qualität der Unternehmenskultur überhaupt gehören zur „Hausordnung“.

So ist es nur folgerichtig, dass sich die Firmenleitung in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre entschloss, den immer deutlicher werdenden Widerspruch zwischen zunehmendem Unternehmenserfolg und –image einerseits und „angestammter“ Standort- und Arbeitsplatzqualität andererseits mit einer sichtbaren, entschlossenen Gestaltungsinitiative zu lösen. Die lautete: Neubau des Firmensitzes am Ortseingang Damgarten von Stralsund aus, einhergehend mit der Realisierung eines grundsätzlich neuen qualitativen und damit verbunden betriebsorganisatorischen Aspektes in der Marketingstrategie des Unternehmens. Die nämlich sollte sich fortan konsequent auch der Erschließung touristischer Marktsegmente widmen, die über die B 105 rollenden Reise- und Urlauber- und somit auch potenziellen Kundenströme direkt ans neue Domizil heranlocken.

Das Zauberwort dafür und mithin für den Charakter der geplanten neuen Produktionsstätte lautete „Schaumanufaktur“. Eine national wie international stark im Aufwind befindliche Form nachhaltiger Kundenakquisitation, eine besonders attraktive Art von „durchsichtigem Unternehmen“ – in diesem Falle vor allem im Hinblick auf den für gewöhnlich sonst „außenstehenden“ Produktinteressenten. Bereits sehr überzeugende Beispiele für den messbaren Erfolg dieser innovativen Marketingstrategien auch in den neuen Bundesländern sind unter anderem die Glashütter Uhrenmanufakturen Lange & Söhne, Glashütte Original und Nomos.

Beauftragt mit der Gesamtlösung des Projektes „Schaumanufaktur Ostsee-Schmuck GmbH“ am neuen Standort, von der Architektur bis zur Grafik der Drucksachen, wurde 1997 das brandenburgisch-mecklenburgische Designatelier formbund, eines der renommiertesten ostdeutschen Gestaltungsteams. Dessen Entwürfe wurden in den vergangenen zehn Jahren mehrfach mit Landes-Designpreisen und unter anderem auch mit dem hochangesehenen „Roten Punkt für hohe Designqualität“ des Essener Designzentrums ausgezeichnet. Für das Kreativpotenzial um Atelierchef Reinhard Otto Kranz entschied sich die Ribnitz-Damgartener Geschäftsführung vor allem nach den guten Erfahrungen, die man bereits mit ersten gemeinsamen Erfolgen bei der Umsetzung neuer CI-Elemente der Ostsee-Schmuck GmbH gemacht hatte.

In den vergangenen Sommermonaten nun erlebte das Ensemble gewordene Ergebnis dieser neuen, überaus komplexen gestalterischen Zusammenarbeit ersten enormen Zulauf. Bis zu 300 Kunden (und sich in der neuen Manufaktur übrigens auch selbst als Hobbygestalter/innen ausprobieren könnende Besucher) täglich werden von dem unübersehbar schon von weitem sichtbaren blau-gelben Pyramidenbau mit seiner kinetischen Plastik auf der Dachspitze seit der feierlichen Einweihung Anfang Juni angelockt. Erst recht gehen ihnen die Augen über, wenn sie ihn betreten – begrüßt von einem gleichsam aus dem Boden des Foyers auftauchenden altehrwürdigen Schiffswrack, in dessen schwarzem Eichen-Kiel faszinierende Bernsteinbucker funkeln, mittels Glasfastertechnik zu magischem Leuchten gebracht.

Der Bootsrumpf ist indes nicht nur Blickfang an sich, sondern erfüllt zudem sozusagen eine Schlüsselaufgabe: Bestandteil seiner „Ladung“ sind nämlich Verkaufstresen für die aktuellesten Schmuckkreationen, deren Präsentation auch als Einladung fungiert zum näheren Sich-Befassen mit dem „Gold der Ostsee“ und seiner Gestaltung in der angrenzenden und noch viel umfangreicheren eigentlichen Ladenausstellung.

Diese zentrale Verkaufsgalerie mit einer der europaweit größten ständigen Bernsteinschmuckausstellungen wird gesäumt von einem etwas höher verlaufenden Umgang, der das Versprechen „Schaumanufaktur“ auf geniale Weise einlöst. Von hier aus, bewusst deutlich über Schulterhöhe der in ihren Produktionsräumen arbeitenden Beschäftigten Einblick nehmend, können die Besucher in aller Ruhe beim Zustandekommen der Schmuckstücke zuschauen, ohne dabei all zu sehr ins Blickfeld der sehr konzentriert arbeiten müssenden Manufakturleute zu geraten. Wer sich aber darüber hinaus selbst als Kreative(r) versuchen möchte, hat hier auch Gelegenheit, dies zu tun und am Ende sein im doppelten Sinne „eigenes Schmuckstück“ anzulegen. Und Touristengruppen, die bei Ostsee-Schmuck Zwischenstation machen, können sich vor oder nach dem Rundgang in einem Reise-Bistro regenerieren.

Zwei Obergeschosse über dem ebenerdigen und selbstverständlich auch barrierefreien Haupterlebnisraum des Pyramidenbaus bieten weitere Bernstein- und Schmuckpräsentationen sowie Platz für die Geschäfts- und Verwaltungsräume des Unternehmens. Dort warten übrigens auch Hängeflächen auf wechselnde Ausstellungen regionaler bildender Kunst, die mit den Schmuckpräsentationen des Hauses in Dialog treten soll.

Das i-Tüpfelchen des ausgeklügelten Architektur- und Interieurkonzeptes von formbund stellen an bestimmten Standpunkten der Vitrinen sowie an räumlichen Durchblicken installierte Innengestaltungslemente mit Bäderarchitektur-Anmutung dar, filigran in einem speziellen high-tech-Verfahren aus Edelstahlblech geschnitten – hier als zierendes Element oder da als Träger von Bernsteinschmuck, auf zeitgemäße Weise traditionelle Küstenkultur zitierend.

Weit mehr als ein i-Tüpfelchen, sondern geradezu als sensationell ist hingegen zu bezeichnen, was sich als Antwort auf die Frage ergibt: So viel Image-Mehrwert – zu welchem Preis für das mittelständische Unternehmen? So ausgefeilt komplex sich der von formbund geschaffene völlig neue Firmensitz und –auftritt der Ostsee-Schmuck GmbH nämlich präsentiert, vom Windspiel auf dem Pyramidendach bis zum Informationsflyer, als so verhältnismäßig gering kostenaufwendig entpuppt sich bei genauem Hinsehen die solide bau- und informationstechnische Substanz.

„Von vornherein erklärtes Ziel der Gesamtgestaltung dieser Schaumanufaktur war, alle Bereiche, von der Produktion bis zur touristischen Vermarktung, erstens mit einfachen Mitteln und zweitens ausschließlich mit regionalen Gewerken zu einem gestalterischen Ensemble höchster Güte zu vereinen – beispielgebend für Investitionen in diese Region und für das unternehmerische Qualitätsverständnis in Mecklenburg-Vorpommern“, unterstreicht Reinhard Otto Kranz von formbund und erläutert: „So wurde das gesamte unverwechselbare Gebäude auf der Basis eines ganz simplen Stütze-Riegel-Industriebausystems mit all seinen Kostenvorteilen entworfen und durch gestalterische Maßnahmen aufgewertet: attraktiven und dennoch wenig aufwendigen Ausbau, ausgeklügelte Farbgestaltung und entsprechend stimmige Oberflächenauswahl außen und innen.“

Ein echtes Vorzeigestück auch in puncto der zur Zeit laufenden „Designinitiative der deutschen Wirtschaft“, dieser Pyramidenbau des Nordostens. Nicht zuletzt unter einem Aspekt, der noch gar nicht genannt wurde: dass hier mit bescheidensten Mitteln eine umfassende Rekonstruktion der Fertigung mit gravierend besseren Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten vorgenommen wurde. Ein auch für die nur Zuschauenden in der Manufaktur sicher nicht zu übersehendes und neben dem einen und anderen schmückenden womöglich zudem anregendes Nachdenk-Mitbringsel für Zuhause.

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(Beitrag für „HORIZONT“ Frankfurt am Main 2000)

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