Trotz hoher Umweltbelastung und schwerwiegender sozialer Probleme weist die mexikanische Hauptstadt auch erstaunliche urbane Qualitäten auf
Von Günter Höhne
Oscar Espinosa Villarreal, der Oberbürgermeister von Mexico-City, ist nicht sonderlich verwundert darüber, daß seine Stadt in letzter Zeit in der europäischen Presse eine auffällige „Popularität“ genießt. Im Vor- und Umfeld der Istanbuler UNO-Konferenz über die Gegenwart und Zukunft menschlicher Siedlungen „Habitat II“ dienten die derzeitigen Probleme der mittelamerikanischen Giga-Metropole mit schätzungsweise 22 Millionen Einwohnern auf einer knapp doppelt so großen Fläche wie der Berlins vielen Städteplanern und Journalisten gern als Menetekel für zu verhindernde weltweite urbane Prozesse in den Großstädten der bevorstehenden Jahrtausendwende. Der Alcalde in seinem Rathaus inmitten der erdbeben-, smog- und kriminalitätsanfälligen einstigen Hauptstadt der Azteken weiß freilich selbst noch weitaus detaillierter über die sisyphushaft erscheinenden tagtäglichen Mühen der Behörden wie der Bewohner zu erzählen, Mexico-City trotz aller unlösbar erscheinenden Probleme nicht nur regierbar, sondern in mancherlei Hinsicht sogar liebenswert zu gestalten und zu erhalten. Und hoffentlich gibt man ihm heute und morgen in Berlin auch Gelegenheit dazu, wenn er im Roten Rathaus zu Gast sein wird, um auf dem Wege nach Istanbul mit Eberhard Diepgen den Stand der gemeinsamen Städtepartnerschafts-Beziehung zu erörtern. Denn manches Bürgerfreundliche, wofür es im vergleichsweise reichen und „ordentlichen“ Berlin keine effizienten Lösungsmodelle gibt, funktioniert in der chronisch verschuldeten und als so chaotisch wie unsicher beleumdeten Hauptstadt Mexikos scheinbar selbstverständlich.[paycontent]
Auch Carlos Gonzalez, in der Stadtregierung die internationale Zusammenarbeit koordinierend (und nun für ein paar Tage Absprechpartner, Betreuer und Freund für zwei aus der Partnerstadt Berlin angereiste „Abgesandte“ der Mieterzeitung „Wohnen in Berlin/Brandenburg“) kennt sehr wohl die neuralgischen Anfälligkeiten seiner in der Welt unter mancherlei Aspekten einzigartigen Riesenkommune. Er wohnt an deren Peripherie. Die tägliche, im Durchschnitt einstündige Tour mit dem Dienstwagen zum Büro in der Innenstadt führt ihn durch den Industriegürtel der rund 100 000 (!) großen und kleineren Fabriken und Werkstätten von Mexico-City, vorbei an den staubigen Arbeiter- und Tagelöhnersiedlungen links und rechts der breiten, stets dicht belegten mehrspurigen Autotrasse. Die ebenerdigen Wohnwürfelchen einfachster Bauart sind zumeist – entweder für sich oder in Nachbarschaftsgruppen – von mehr als mannshohen Mauern umgeben. Hier wie erst recht in den besseren Wohnvierteln tut man gut daran, auf diese Weise seine bescheidene Habe vor leichtem Zugriff zu schützen. Unter den geschätzten täglichen zweitausend Neuankömmlingen in den beim besten Willen nicht verwaltbaren wild wuchernden, primitiven Hüttenansammlungen draußen vor der Stadt überwiegen verzweifelte, orientierungslose Familien vom Lande, die allein in der Nähe zur Metropole Chancen zur Sicherung des Existenzminimums sehen – wenn nicht durch die erhoffte Gelegenheitsarbeit, dann eben als Gelegenheitsdiebe.
Mit dem Eintauchen in den engeren Stadtkern, der in Berlin vergleichsweise etwa bereits mit Hönow oder Teltow oder Spandau beginnen würde, erreicht Carlos Gonzalez die ersten Ausläufer des wohl größten Straßenmarktes der Welt, der sich bis in die Stadtmitte hinein erstrecken wird. Ich gebe ihm den Namen „Rotlicht-Markt“: Sobald die Ampel an einer Kreuzung Stopp gebietet, schlängeln sich Scharen von fliegenden Händlern durch die anhaltende Kolonne. Junge Leute umlagern Pkw und erklimmen hochbeinige Trucks, um als Scheibenwäscher ein paar Pesos zu kassieren, andere versuchen Abnehmer für eisgekühlte Getränkedosen, Snacks und Süßigkeiten zu finden, Frauen und Männer bieten Sonnenblenden, Scheibenwischer und anderes Zubehör fürs Auto an, der absolute Renner jedoch – hier im buchstäblichen Sinne – sind Lotterielose. Wenn die Ampel auf Grün schaltet, postieren sich die „Kaufleute“ auf den Trennlinien der Straßenmarkierung, stehen Warteschlange für die folgende Rotphase. Die nächste Kreuzung beherrschen buntgeschminkte jugendliche Gaukler, und ein Feuerschlucker faucht auf Zuwinken mit Peso-Münzen einen flammenden Gruß über die Dächer der Käfer, amerikanischen Straßenkreuzer-Veteranen und Nobelkarossen.
„Nein, legal im europäischen Sinne ist dieser Handelsplatz Straße nicht“, erklärt Carlos Gonzalez, der sich eine Packung Kaugummi für seinen kleinen Sohn hereinreichen ließ, „aber jedermann toleriert und nutzt ihn wohlweislich. Die hier im Abgasdunst stundenlang ausharren, leisten eine harte Arbeit – Arbeit, die sie woanders bei allem Bemühen nicht bekommen. Den Kaugummi erhalte ich im Supermarkt zwar fürs gleiche, höchstwahrscheinlich sogar für weniger Geld, aber hier helfe ich ein wenig mit, Not zu lindern und vielleicht Kriminalität aus Not zu verhindern.“
Der leitende Regierungsbeamte im höheren Dienst, der stets sein eigener Chauffeur ist, dessen kleines Büro nicht komfortabler eingerichtet ist als ein Sozialamts-Dienstzimmer in Berlin-Prenzlauer Berg und dessen Familie in einem kleinen Reihenhaus wohnt, verkörpert mit seinem Habitus und sozial-liberalen Pragmatismus durchaus das Gros der mexikanischen Mittelklasse, die in Politik, Wirtschaft und Bildung tonangebend ist. Den außerordentlichen Dauerzuständen in Mexico-City versucht man, wo sie es unbedingt erfordern und zulassen, nach organisatorischen und finanziellen Kräften gerecht zu werden. Wo das nicht möglich ist und sich leidlich akzeptable Über- und Miteinanderlebensmechanismen im Selbstlauf hergestellt haben, läßt man diese subkulturellen Arrangements stillschweigend gelten.
„Chaos ist auch eine Chance für produktive Synergien“, sagt Raymundo Goyenechea, Geschäftsführer der Wirtschafts-Verlagsgruppe „expansión“, in dessen Familie im Südwesten der Stadt ich eine Woche lang herzlich aufgenommen bin (seine Frau Lilia arbeitet als Zahnärztin in einer Gemeinschaftspraxis, Tochter und Sohn gehen aufs Gymnasium). „Die Stadtregierung bemüht sich auf jeden Fall darum, daß wenigstens niemand hungern muß, auch keines von den Tausenden Straßenkindern“. Für die drei Pesos (umgerechnet etwa 60 Pfennig), die ein „Rotlicht“-Händler vielleicht in einer Stunde „gutmacht“, erhält er auf dem offiziellen Markt oder an einem der unzähligen Straßenkioske immerhin ein Dutzend frischgebackener Tortillas, deren Füllung ihn nicht viel mehr kosten wird. Die Preise für Grundnahrungsmittel, auch für das in Mexico-City besonders kostbare Wasser, werden von Staats wegen niedrig, für die Allgemeinheit erschwinglich gehalten, und für die Mietwohnungen wurde ein Preisauftriebs-Stop angeordnet. Das freilich hat auch zur Folge, daß die Vermieter in den ohnehin oftmals baulich heruntergekommenen Behausungen der unteren Einkommensschichten kaum noch einen Handschlag zur Anhebung der Wohnqualität tun lassen.
Um so größere Anstrengungen richtet die Stadtregierung darauf, die Qualität des öffentlichen Lebensraumes – für viele Millionen Bewohner armseliger Quartiere das eigentliche Zuhause – trotz immensen Verkehrs und immer katastrophalerer Bevölkerungsdichte nicht verkommen zu lassen. Als ich meinen Gastgebern berichte, daß die Politiker der deutschen Hauptstadt seit dem Frühling 1996 aus Einsparungsgründen die Brunnen inmitten Berlins trockengelegt haben, glauben sie, ich hätte mich in meinem Englisch- oder (zugegebenermaßen nur aus dem Sprachführer gespeisten) Spanischwortschatz vergriffen. So etwas ist für sie unvorstellbar. Wie es auch der permanente Verdreckungszustand vieler, besonders östlicher Berliner Stadtbezirke wäre. Stadtreinigungskolonnen und Müllsammel-Fahrzeuge gehören ebenso zum normalen Straßenbild von Mexico-City (und nicht nur in Down-town) wie die flinken Käfer-Taxis, Minibus-Fahrgemeinschaften und die souverän-artistisch agierenden Verkehrspolizisten. Und wenn eine – sehr billige – Metro-Fahrt zu den morgendlichen und abendlichen Stoßzeiten (nomen est omen) auch alles andere als vergnüglich ist, die Stationen und die Waggons sind von einer den Berliner beeindruckenden enormen Sauberkeit.
Auch daß die gepflegten großen und kleineren Stadtparks an Wochenenden und Feiertagen zur Ausrichtung von tausenden Familien- und Nachbarschafts-Fiestas genutzt werden, anscheinend ganze Wohnungseinrichtungen dorthin wandern und sich abends ein bunter Glühbirnen-Sternenhimmel unter den Kronen der Palmen und üppigen Laubbäume ausbreitet, ist selbstverständlich. Niemand käme auf die Idee, hier ein „Lager- und Grillverbot“ zu erlassen – keiner allerdings auch darauf, seinen Abfall beim Antreten des Heimweges zu „vergessen“… Wobei generell auffällt, daß die Bewohner von Mexico-City – ob arm, ob mehr oder weniger begütert, ob Mestizen oder deutlich indianischer Abstammung – offensichtlich fast durchweg von einem inneren Abkommen geprägt sind, das heißen könnte: „Mein wertvollster Besitz ist meine Selbstachtung.“
Es ist immer wieder frappierend zu beobachten, wie selbst weit draußen vor der Stadt am staubigen Straßenrand ausgehfein gemachte Frauen in farbenfroher Garderobe, Männer in schneeweißen Hemden und herausgeputzte Kinder den Bus in die City erwarten – aus besagten tristen, grauen Hüttenansammlungen hinter Kaktus-Palisaden kommend. Wie geschmacklos grell aufgetakelt nehmen sich dagegen die Damen und Herren der Berliner Oberschicht aus, die das KaDeWe zum freitäglichen mondänen Snack in der Schlemmerabteilung heimsuchen – und wie erbärmlich abgerissen die Prenzlauer-Berg-Jungdynamiker in ihrer schwarz-grau-braunen Understatement-Einheitskluft, deren mieseste Hinterhofwohnung in den Augen dieser Mexikaner noch ein Traumpalast wäre.
Es ist eben alles relativ auf dieser Welt – und so sind natürlich auch diese teilweise euphorisch anmutenden Beobachtungen und Erfahrungen des Gastes aus Berlin in Mexico-City zu bewerten. Wobei er die Augen vor objektiven Diskrepanzen im Alltag der Millionen-Metropole nicht verschließen kann und will. So erlebt er beispielsweise in einer der sehr zahlreichen Privatschulen der Stadt, daß hier bereits Vorschulkinder im zarten Alter von 4 Jahren Englischunterricht und individuelle Computerunterweisung erhalten und erfährt zugleich, daß die öffentliche Volkschule nebenan weder eine Fremdsprache lehrt noch nur einen einzigen Rechner in ihrem Lehrmittelkabinett aufweist. Gehen die Privatschüler – natürlich samt und sonders Kinder der oberen und Mittelschicht – nach der 12. Klasse mit einem umfangreichen Zensurenspiegel ab und relativ guten Chancen auf einen Studien- oder Ausbildungsplatz, so besteht das Zeugnis der Volksschüler aus einem DIN- A-5-Zettel mit wenigen Zeilen und ist deren Aussicht, etwas anderes zu werden als Gelegenheitsarbeiter oder Straßenhändler (wenn überhaupt), sehr gering. Was es aber wiederum an allen Schulen Mexikos gibt: den festlich begangenen „Tag des Lehrers“ am 15. Mai, und der ist sogar unterrichtsfrei…
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(Der Autor war im Mai 1996 eine Woche in Mexico-City bei drei Familien zu Gast, um als Journalist im Rahmen der von der Mieterzeitung „Wohnen in Berlin/Brandenburg“ initiierten Partnerstädte-Aktion „Wie wohnen die anderen“ gemeinsam mit einer Leserin Eindrücke vom Alltag in der größten Stadt der Welt zu gewinnen. / Veröffentlichung 1996 in Neues Deutschland; in alter Rechtschreibung belassen)