Unruhe(n) im Müglitztal

Kein anderer sächsischer Produktionsstandort fand in den neunziger Jahren in deutschen und internationalen Medien so viel und so zunehmend Aufmerksamkeit hinsichtlich anspruchsvoll, ja luxuriös gestalteter und sich zum großen Teil – obwohl meist sündhaft teuer – mühelos verkaufender Produkte wie Glashütte im Osterzgebirge. Schien es Anfangs gelegentlich, als wollten sich die Neu- und Wiedereinrichter heillos in Konkurrenzangst oder –neid zerstreiten, so ist man heute in Glashütte wieder wer: jeder der vier Hersteller für sich und jeder ihrer Kunden auch. Denn mit einer ”Glashütter” am Handgelenk demonstriert man Wohlstand und Geschmack. Ein Schlüssel zu den Erfolgen, die die Unternehmen nach und nach in schwarze Zahlen führen könnten: Design als konsequent zielgruppenorientierte Marktstrategie. Jede Firma, gleichwohl im selben oder zumindest gleichen Produktsegment operierend (und dies zudem in allernächster Nachbarschaft), verfolgt ihr spezifisches Konzept und fährt offenbar recht gut damit.

Glashütte? Kaum noch ein Begriff in der internationalen Uhrenbranche vor zehn Jahren. Kein aktueller jedenfalls. Früher, ja, da war doch mal was… Und Unruhen? Die wurden nur noch in einer kleinen Nischenproduktion montiert. Ansonsten Quartzantriebe. Auch das einstmals berühmte ”Glashütte / Sa.” auf Zifferblättern gab es in der DDR jahrzehntelang nicht. Nicht mit dem Herkunfts-Kürzel für Sachsen jedenfalls. Regionales Bekenntnis für Qualität in einem Land der ”sozialistischen Staatengemeinschaft”? Das roch nach reaktionärem Lokalpatriotismus, nach Nationalismus gar. Und überhaupt waren die Glashütter Uhrenbetriebe – auf die schlichte Abkürzung GUB zusammengeschmolzen – Teil des VEB Uhrenwerke Ruhla in Thüringen und dieser wiederum ”Leitbetrieb” des VEB Kombinat Mikroelektronik. [paycontent]Was schon alles sagt: Glashütter Uhren hatten eigentlich sowieso nichts mit Sachsen zu tun, und schon gar nichts mehr mit dem ehemaligen, längst unzeitgemäßen Image von Handaufzug und Automatik. Tonnenweise Standard- und zentnerweise Sonderausführungen batteriegespeister Zeitanzeiger mit modernem Allerweltsgesicht verließen den Ort. Und was davon, noch ein bisschen aufgepeppt oder gleich nach Kundenwunsch-Vorlage designt, als Billigexport ins NSW, ins ”nichtsozialistische Wirtschafts- und Währungsgebiet”, ging, war dann No-Name-Ware, trug nicht einmal die Aufschrift ”Glashütte” auf dem Zifferblatt, wie wenigstens die besseren und die manchmal in SED-Parteitagseditionen aufgelegten Modelle.

Das war der Stand der Dinge beziehungsweise Uhren, als jene der DDR-Ära abgelaufen war und Anfang bis Mitte der neunziger Jahre ein paar vermeintlich durchgedrehte Westler und ein eher schlecht als recht überlebender einheimischer Produzent (vor der Wende zeitweise Betriebsleiter im GUB-Verbund und erst seit 1994 wieder wirklicher Eigentümer des in den siebziger Jahren zwangsverstaatlichten einstigen Familienbetriebes) wähnten, im Müglitztal aus den Resten der GUB-Quarzuhrenfabrik wieder etwas in Gang bringen zu können. Mehr noch: davon träumten, unter ”Glashütte Original”, ”GLASHÜTTE I/SA oder ”Glashütte/Sa” gar neue, goldene Zeiten für alte Marken anbrechen zu lassen.

 

MÜHLE

 

Da war und ist die Marke ”Mühle” und ihr Inhaber Hans-Jürgen Mühle – besagter Einheimischer, Urenkel des Firmengründers Robert Mühle vor 130 Jahren. NAUTISCHE INSTRUMENTE, MÜHLE-GLASHÜTTE/SA heißt das mittelständische Unternehmen mit heute knapp 20 Mitarbeitern korrekt. Seit 1869 waren hochpräzise Messgeräte für die Uhren- und Fahrzeugindustrie, Schiffsuhren und nautische Geräte die Traditionssprodukte. Letztere auch noch zu DDR-Zeiten, unter GUB. Davon allein könnte Mühle heute nicht leben. ”Die Schiffsbranche trägt keine Mannschaft einer Glashütter Uhren- und Chronometermanufaktur mehr”, winkt der alte-neue Firmenchef ab. Aber der Ruf des Unternehmens als Präzisions- und Zuverlässigkeitsgarant trägt noch, trägt offensichtlich auch weiter, seit Hans-Jürgen Mühle 1995 ins kalte Wasser sprang und mit dem neuen Produktionszweig Mechanische Präzisionsarmbanduhren als zweitem Standbein wieder ans Ufer trat. (Schiffsuhren und nautische Instrumente kann er auch immer noch liefern, in der alten, berühmten Qualität. Der Markt dafür ist zwar wie gesagt klein und meldet sich nur sehr sporadisch, aber wenn, dann garantiert auch immer wieder bei ihm.)

 

Freilich, einfach so aus dem Handgelenk zu schütteln vermochte der Neuunternehmer die Armbanduhrenproduktion nicht, um im Bilde zu bleiben. Eigenkapital? Woher sollte das kommen? Bankkredite? ”Die Banken – die grüßen mich freundlich und wünschen mir ein langes Leben”, antwortet Mühle sarkastisch. ”Wir haben mit EKH, KFW und Bankkrediten arbeiten müssen, die wir jetzt natürlich entsprechend und noch lange abzahlen müssen. Damit haben wir aber auch etwas ganz Gescheites angestellt: nämlich unter anderem selbst intelligente Uhrenanlagen entwickelt, die es so vorher noch gar nicht gab. Für selbsteinstellende Uhren, eine Kopplung zwischen Mechanik und Elektronik.”

 

Auf diese neue eigene Technologie setzt die kleine, aber feine Firma nicht zuletzt und auf das bewährte Produktimage aus den nautischen Hoch-Zeiten, ”Aufbewahrungskästchen aus Mahagony und das sportliche Instrumentarium als Gestaltungsmerkmal unserer Armbanduhren: klare Zifferblätter, gut erkennbar für Sportler, für Nautiker, für Leute, die nichts für Schnickschnack übrig haben. Wir haben mit Taucher- und Fliegeruhren angefangen, die eben nicht nur so aussehen, wie sie heißen, sondern auch dementsprechend spezifisch und absolut zuverlässig funktionieren. Unser neuester Hit ist die erste mechanische Armbanduhr der Welt mit einem elektronischen Höhenmesser, dessen gesamte Technik ins 1,95 Millimeter hohe Zifferblatt integiriert wurde. Das macht sonst keiner in Glashütte.”

 

Das Konzept bewährt sich: Die durchweg positiv belegte und einzigartige Begriffskombination ”Nautische Instrumente, Glashütte und Sportlichkeit”, konsequent in eine eigenständige Formensprache gebracht und mittlerweile auch in festen (übrigens Thüringer) Designer-Händen bis in eine originäre Kultur der Zifferblattgestaltung hinein, steht so im (wieder) berühmtesten Ort deutscher Uhrmacherkunst einzig und allein für die Firma Mühle. Absolut konkurrenzlos, denn die Unternehmer-Kollegen nebenan verfolgen entweder ganz andere oder auch viel breiter gefächerte Design- und Marketingstrategien. Die exakt annavigierte Nische, in der Mühle operiert und aus der er zunehmend auch marketing-intelligente Ausfälle unternimmt, neidet ihm keiner ernsthaft. Mühle gehört mit und wegen seiner Eigenart zur Glashütter Familie – und in Leipzig übrigens mittlerweile zu den spektakulären Gesprächsthemen auf der Spätsommermesse für Uhren und Schmuck MIDORA. Die im August 1999 hier vorgestellte limitierte Edition zum ”Glücksdatum” des Jahrzehnts, dem 9. 9. 1999, mit neun Uhren in 99 Kollektionen, die von eben so vielen Fachhändlern angeboten werden sollten, ging auf einen Schlag restlos weg. Von den inzwischen fünfhundert Konzessionären Mühles in Deutschland mussten da eben leider vierhundert und einer das Nachsehen haben.

 

Lange & Söhne

 

Ob überhaupt oder wie genau die aus dem oberrheinischen Schaffhausen nach Glashütte zurückgekehrte legendäre Nobeluhren-Dynastie Lange & Söhne die Müglitz-Mitanrainer der Mühle-GmbH und ihre immer noch hart erkämpft sein wollende Positionierung auf dem Markt zur Kenntnis nimmt, sei dahingestellt. Faktum ist aber, dass man sich freundlich grüßt und achtet. Kennt sowieso. Und die einzige irritierende Verwechslung, die hin und wieder eintritt, was die beiden Häuser betrifft, ist rein komischer Natur. Hans-Jürgen Mühles rechte Ingenieur-Hand hört nämlich auch auf den hier verbreiteten Namen Lange, und da kommt es schon mal bei Kundenanrufen zu Irritationen, wenn sich bei der Firma Mühle jemand mit ”Lange” meldet…

 

Weniger komisch findet es der Dritte im Viererbund der Glashütter Uhrenfabrikanten, Heinz W. Pfeifer von der Glashütter Uhrenbetrieb GmbH (auf die wir auch noch zu sprechen kommen), dass ihm bei der Konkurrenz Lange & Söhne zuweilen nicht nur Namen aus seinem Haus begegnen, sondern leider auch die dazugehörigen identischen Experten, die er selbst gern behalten oder angeworben hätte. Die Wunde juckt schon noch. Hartmut Knothe ist so ein ”Überläufer”. Einstmals Leiter der auch noch zu DDR-Zeiten renommierten zentralen GUB-Betriebsfachschule für die Uhrmacherzunft, residiert der waschechte Glashütter im viel schmuckeren Gebäudeensemble an derselben Altenberger Straße – nun als einer der Geschäftsführer des Unternehmensgründers-Nachfahren Walter Lange. Eine allseits hochgeachtete, integre Kompetenz in Sachen Uhrenkultur und –Marketing. Deshalb ist das mit dem ”Residieren” auch eigentlich ein falscher Zungenschlag. Denn einen Termin bei Hartmut Knothe zu bekommen, ist ein Kunststück. Der Mann ist wie die Unruhe, das Herzstück der Uhr, selbst: immer auf Achse.

 

Das tut aber nichts, wenn es nur darum geht, Genaueres über das Innenleben der Lange-Firma und ihrer heute wieder weltweit ”warte-gelisteten” Armbanduhren, das Stück für zwischen rund 16tausend und 300tausend Mark, zu erfahren. Besucher sind bei Lange & Söhne immer willkommen, gerade auch solche, die sich den Luxus des Besitzes eines solchen Exemplars niemals werden leisten können (aber man sollte ja auch hier nie nie sagen, solange es Lotto und Erbschaften gibt). Ein Rundgang durch die vom Eingangsbereich bis zum Versand so bestechend stimmig, edel und sachlich zugleich ausgestattete Firma (eben wie eine ”Lange” selbst) ist immer ein Erlebnis und Hartmut Knothe bei Abwesenheit stets durch ebenso beredte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wie er selbst ”ersetzt”.

 

Dass der Gang von Abteilung zu Abteilung an gläsernen Vollsichtwänden vorbeiführt, man den Monteuren und Graveuren aber auch direkt über die Schulter, auch mal durch Lupe oder Mikroskop blicken und die an ihren mit den eigentümlichen Auflage-Flügeln für die Arme ausgerüsteten Uhrmachertischen werkelnden Frauen und Männer befragen kann – dies gehört mit zum modernen Design- und Marketingkonzept von Lange & Söhne, Glashütte. Frank Wolf, der Abteilungsleiter der Uhrenmontage, an seinem Handgelenk das Paradestück ”Lange 1” der Kollektion, hält einen klitzekleinen Glaszylinder hoch, vom Durchmesser eines Druckbleistiftminen-Röhrchens. Der Boden ist mit etwas Goldgries bedeckt, gerade mal so. ”Das sind ungefähr eintausend Chatons, das Unterfutter für die Lagersteine der ,Lange‘. Ein Stück kostet etwa eine Mark.” Nießen bei der Montage könnte teuer werden.

 

Die Lange-Kollektion präsentiert sich vom Design her bewusst weder modisch-verspielt, noch zu kühl-sachlich oder gar etwa auch nur in Ansätzen von Techno-Look, Pseudobarock und sonstigen Trends. Nuancen im Erscheinungsbild gibt es aber trotzdem jede Menge. Eben der feine Unterschied macht es, dass ein Modell wie der neue ”Datograph” dann das Gesicht eines sportlichen Minutenzählers trägt und trotzdem unverkennbar eine typische A. Lange & Söhne ist, nicht nur des Namenszuges auf dem schwarzen Zifferblatt wegen (das A. steht für Adolph, den Uhr-Vater aller Glashütter Präzisionstradition). ”Klassisch-elegant” nennen die Lange-Leute das Erscheinungsbild ihrer homogenen Produktlinie. Das Design wie übrigens Anfang der neunziger Jahre auch die fachliche Crashkurs-Aufrüstung der heutigen Glashütter Manufaktur-Spezialisten kommt aus beziehungsweise geschah in der Schweiz. Beides vom Solidesten, vom Feinsten.

 

”Man kann auf alles verzichten, außer auf Luxus”, lautet eine Devise bei Lange & Söhne. Wer mit solchem Credo auftritt, von dem sollte man meinen, er sei das Tanzen auf goldenem Parkett gewöhnt und hätte es somit auch nicht schwer gehabt, sich in Glashütte zu etablieren und nun weltweit durchzusetzen (an manchen Tagen wähnt man in Glashütte mehr Japanern als Einheimischen zu begegnen). Schließlich hat Firmenchef Walter Lange niemanden Geringeres als Mannesmann/VDO mit ins Boot gebracht. ”Da machen Sie sich aber mal kein falsches Bild”, warnt Hartmut Knothe milde lächelnd. ”Immerhin fast vier Jahre hat es gedauert, bis wir im Oktober 1994 die neuen Lange-Uhren präsentieren konnten, vier Jahre Investitionen in Qualifizierung der Leute, in Architektur, Technik, Vertrieb und so weiter. Und das nicht mit dem berühmten goldenen Löffel im Mund. Wir haben genau so wie die anderen Glashütter Neubeginner Kredite und Fördermittel in Anspruch nehmen müssen – vielleicht mit einem bisschen günstigeren Rückenwind aus der Schweiz. Aber keinesfalls zu viel, denn wir sind ja als die aufkommende deutsche Konkurrenz angetreten!”

 

Die vornehme Zurückhaltung der Schweizer sollte sich als durchaus verständlich erweisen. Beim Markteintritt 1994 machte Lange & Söhne mit einem Absatz von 120 Uhren zwei Millionen Mark Umsatz. Für das Jahr 2000 wird mit 5 100 verkauften Exemplaren quer durch die ganze, behutsam wachsende Kollektion gerechnet, Umsatz: 75 Millionen Mark. Eine Entwicklung, die den eingefahrenen Mitbewerbern um Schaffhausen herum schon ein wenig zu schaffen macht – aber natürlich den Firmeninhabern und –angestellten in Glashütte große Freude bereitet. Und nicht nur ihnen. ”Die Lange-Philosophie lautet seit je her: Von unserem Erfolg sollen viele profitieren, vor allem die Region hier im Osterzgebirge, Zulieferer und Partner der Firma, demnächst wieder beim kommenden Ausbau des Unternehmenssitzes”, so Geschäftsführer Knothe. Die abgesegneten Pläne für die Errichtung eines weiteren Manufakturgebäudes an der Altenburger Straße liegen schon in seiner Schreibtischschublade, ganz oben.

 

Glashütte Original

 

”Eine Uhr, wie es sie noch nie gab” titelte die Ausgabe Nr. 3/1999 von ”Glashütte Aktuell – Die Zeitung aus Glashütte für die Freunde der Glashütter Uhr” und feierte damit die Premiere der ”Senator Ewiger Kalender Panoramadatum”, der jüngsten Großinszenierung aus dem Hause Glashütter Uhrenbetrieb GmbH. Der Geschäftsführende Gesellschafter von GUB Heinz W. Pfeifer, der ”Glashütte Aktuell” herausgibt, hat ein Fable für das Barocke, für den opulenten Überfluss, für ein Maximum an Sinnen-Botschaften auf engstem Raum. Vielleicht deshalb lieber einmal mehr ”Glashütte” in Titel, Überschriften und Texten seiner Hauspostille, die jedermann kostenlos abonnieren kann. “Auf einen Hinweis hin im Uhrenmagazin Anfang 1999 flatterten schlagartig 7 000 Abo-Bestellungen ins Haus. Ich habe somit einen sensationellen Endverbraucherzugriff, ohne Fachhandel-Filter.”

 

Den versucht er nämlich möglichst zu umgehen. Denn der Fachhandel, erklärt Pfeifer, gerade auch in den neuen Bundesländern, hätte es natürlich lieber etwas billiger und dafür etwas mehr. Da würde Glashütte schon mal gegenüber Schweizer und anderen Großproduzenten, die auch prestigehafte Optik bieten, bevorzugt bei der Kundenberatung. Denn “wer braucht schon eine Uhr für 20 000 Mark? Das ist ein reiner Erlebniswert. Der muss vermittelt werden. Und das kann ich selber immer noch am besten!”

 

Deshalb ist Heinz W. Pfeifer nicht nur Unternehmens-Führer, sondern auch Chefgestalter, Marketing- und Werbestratege in einer Person. “Ich habe dieses Unternehmen erworben, weil ich einen Ego-Trip vorhatte: Ab jetzt mach’ ich Uhren. Es ist mir eine Lust, jede Uhr selber zu gestalten, jeden Katalog, die Raumaufteilung des Beriebes – alles.” Deshalb ist er auch noch sein eigener Chefredakteur und tut der aus der Kaufmanns- und Kunsthandwerkerstadt Nürnerg eingereiste Neu-Glashütter ein weiteres: Allabendlich stellt er sich seinen Interessenten und Kunden eine Stunde im Internet zum Chetten. Ist für sie als Chef von Glashütte Original verfügbar, wie er es bezeichnet.

 

So gesehen betrachtet er as Internet in puncto Kommunikation und Dialaog als “einen interessanten, kreativen Fortschritt”. Wo hingegen er das virtuelle Kaufhaus als Ersatz für den Fachhandel (den er natürlich braucht und auch schätzt) für völlig ungeeignet, ja für kundenunfreundlich hält, jedenfalls was dreidimensionale Produktionen wie hochwertige mechanische Uhren betrifft. “Es darf nicht sein, dass sich der Chatter den Weg zum Händler erspart. Das Ins-Netz-Gehen soll ihn nur heranführen an Glashütter Uhren. Es kann doch nicht angehen, dass wir uns den Kopf zerbrechen, jedes Detail bis ins Feinste gestalten, und dann wird das zweidimensional in schlechter Auflösung aus dem Internet glotzende Produkt gekauft. Welch Kulturniedergang!”

 

Der mit unverkennbar bayerischem Zungenschlag ungeheuer beredte, aber gleichwohl als (wenn auch ungeduldiger) Zuhörer am Gesprächstisch hochkonzentrierte Nürnberger Uhrensammler und –bastler aus Leidenschaft (“Ich habe Mathematik und Physik studiert, mich mit Marketing und Kybernetik beschäftigt und zwanzig Jahre lang mit Uhren auseinandergesetzt.”) sagt ganz offen, was er mit seiner Firmenpolitik will: ”Den Luxusmarken aus der Schweiz gehörig Marktanteile abluchsen”.

 

Allein oder im Schulterschluss mit den Glashütter Unternehmer-Kollegen? “Ach wissen Sie, mit dem Schulterschluss ist das so eine Sache… Freilich: öffentlich nennen wir uns ja nicht mal Mitbewerber, sondern man bezeichnet sich ganz nett als “Alternative zu den anderen”. Das ist ein Schmarrn, das ist Politik. Marketing ist, dass wir hier jeder für sich Gewinne machen wollen. Folglich kooperiere ich nicht, sondern ich konfrontiere. Wir haben in dieser Branche keine weißen Flecken, die noch zu besetzen sind. Wenn ich hier Erfolg haben will, muss ich jemandem was wegnehmen.”

 

Die in “Glashütte Aktuell” gefeierte GUB-Linie “Senator”, eine “Uhr, wie es sie so noch nie gab” – nämlich vollmechanisch, mit ewigem Kalender, Panoramadatums- und echter Mondphasenanzeige und durch einen Saphirglasboden nicht nur intelligent, sondern auch noch faszinierend “einsichtig” – ist solch eine Kampfansage, wie sie des öfteren aus dem (nur noch äußerlich) alten Stammhaus des ehemaligen DDR-Kombinatsbetriebes kommen.

 

Seine Gäste und Kunden, darunter fast jeder denkbare deutsche Medien-, Sport- und Kunstprominente, bewirtet Heinz W. Pfeifer aus Meißner Porzellan, und das sächsische Weiße Gold ziert neben den in streng limitierten Auflagen von je 150 Stück hergestellten Linien “1845” und “Lady-Meissen” (zu je 22 500,– bzw. 17 500,– DM) auch das mit japanischem Motiv handbemalte Zifferblatt seines absoluten Vorzeigestücks ”Julius Assmann 2”, Auflage 25 Exemplare, Preis je 290 000 Mark. Damit ist er nicht nur den Schweizern, sondern auch Lange & Söhne als Konkurrent in unmittelbarer Nachbarschaft schon verdammt dicht auf die Pelle gerückt. Apropos Schweizer: Hinterm Rücken der Schweizer Garde vorm Vatikan tickt auch bereits eine Glashütte Original. Das bei einer Audienz an Papst Johannes Paul II. von Heinz W. Pfeifer selbst übergebene, speziell für das Oberhaupt der katholischen Kirche angefertigte historische Gangmodell mit fliegend gelagertem Tourbillon ist nun Bestandteil des Fundus der Vatikanischen Museen.

 

Technische Weiterentwicklungen und Innovationen in der mechanischen Uhrenmanufaktur werden heute immer seltener und kostenmäßig fraglicher. Auch hier gibt es kaum noch weiße Flecken zu besetzen. Deshalb differenziert man sich, auch und gerade in Glashütte, zunehmend über das Produkt- und Unternehmenserscheinungsbild. Pfeifer: “Die Gestaltung nimmt einen immer höheren Stellenwert ein. Die inhaltlichen Möglichkeiten vieler Produkte gelangen immer mehr an objektive Grenzen oder haben sie schon erreicht. Also muss ich mit der eigenen Produktidentität deutlicher werden. – Aber auch der Fokus des Kunden verändert, verschärft sich permanent. Nachdem sich beispielsweise bei den Automarken eine schleichende gestalterische Nivellierung eingestellt hat, wird plötzlich eine kleine Nuance als markantester Unterschied wahrgenommen! Ob nun die Lampenform sich mehr von rechts oder von links geschwungen zeigt. Das wird auf einmal als dramatisch anderes Erscheinungsbild interpretiert. Minimale äußerliche Unterschiede werden hier mit einem Mal wie Schwarzweiß-Kontraste bewertet.”

 

NOMOS

 

Bauen Lange & Söhne die Rolls Royces unter den Glashütter Uhren und Glashütter Original vielleicht die Mercedes Benz (Pfeifer: “Einen Ferrari können Deutsche, können Teutonen nicht machen!”) und gibt sich Mühle Mühe, die BMW-Roadster-Klasse zu erreichen, so kümmert sich der halb im Rheinland und halb in Dresden beheimatete Roland Schwertner von NOMOS hier sozusagen um den Audi.

 

Die Markenpalette aus seiner Manufaktur macht zwar nur einen Bruchteil derer der “Mitbewerber” links und rechts der Altenberger Straße aus, aber als Lange & Söhne sich noch um das Anfahren ihrer Produktion kümmerten und das von der Treuhand notverwaltete GUB-Unternehmen immer noch kein Design- und Marketingkonzept, weil keinen Pfeifer hatte, war Schwertners NOMOS Tangente schon Thema in den Design- und Uhrenfachzeitschriften. Kaum hatte die erste Tausenderserie das kleine Werkstattgebäude am Ortsausgang von Glashütte verlassen, nahm das für die besonders anspruchsvolle Produktkultur seiner Waren berühmte Katalaogversandunternehmen Manufactum (Slogan: “Es gibt sie noch, die guten alten Dinge”) die mechanische Armbanduhr mit ihrer an Werkbund um Ulm erinnernden edlen Sachlichkeit ins Programm auf. Das brachte Schwertner und nicht nur seinen, sondern überhaupt den fast vergessenen Glashütter Uhrenmachern im Lande erstmals große Aufmerksamkeit ein, aber die wurde ihm von der örtlichen Konkurrenz nicht mit Anerkennung vergolten. Im Gegenteil. Man monierte, dass sich angeblich nicht ausreichend echte hiesige Wertschöpfung unter dem Schriftzug “Glashütte. Sa.” verberge, lief mit dieser Klage sogar vor Gericht.

 

Die Tangente und die Ludwig, die Orion und die Tetra laufen immer noch, nun nicht nur unter anderem auch mit dem traditionellen Glashütter Sonnenschliff an Sperr- und Kronrad und Wölkchenschliff auf Ankerkloben und Werkplatine, sondern mit immer mehr hier endgefertigten Zulieferteilen. Und der Firmenchef von Manufactum ist inzwischen vom Geschäftspartner zum Teilhaber geworden.

 

Roland Schwertners Design- und Marketingkonzept ist nicht auf Linien-Expansion ausgerichtet, sondern fast ausschließlich auf zwei andere Merkmale: Erstens die ständige qualitative, und so weit der Atem reicht, künftig auch einmal die quantitative Fortschreibung des Erfolgs mit der nur noch in kleinen Details zu modifizierenden Tangente- bis Tetra-Hauptlinie. Nur, aber gerade eben Kennern wird auffallen, dass die arabischen Ziffern der neuesten Generation der Tangente etwas gestreckter sind, noch eine Spur eleganter. Die neueste Modifikation der NOMOS-Uhren allgemein heißt, dass sie jetzt mit “dem Armband ausgestattet sind, das wir immer gesucht haben”: Das Material ist Shell Cordovan, ein besonders wertvolles und strapazierfähiges, vor allem weil wasserabweisendes und extrem langlebiges Leder aus den Hinterläufen von amerikanischen Arbeitspferden. Das nächste, was Roland Schwertner vor hat, ist die Einführung des Sekundenstopps.

 

Das zweite Marketing- und Designziel, das Roland Schwertner mit seinen Armbanduhren stets, aber nicht in hektischem Dauerlauf im Auge hat, ist das Auflegen von limitierten Editionen. Eine alte Uhrenmanufakturen-Tadition, die ja auch die anderen, die großen und die angestammten Glashütter Unternehmen verfolgen. So wird es seine Tangente sein, die zur EXPO 2000 in – was sonst – 2000 Exemplaren mit weiß versilbertem Zifferblatt, gebläuten Stahlzeigern, versilbertem Werk und Saphirglasboden aus dem Präzisionsfeinmechanik- und Designstandort Glashütte in Sachsen grüßen wird.

 

Eine späte Genugtuung für den einstmals gescholtenen Neu-Glashütter? “Ach was, das hat sich alles schnell beruhigt, und wir haben in der Kommunikation unter uns doch zuweilen schon die Qualität der Produkte erreicht. Und die kann nicht gut genug und ihre Vielfalt nicht breit genug sein. Je mehr sich das verifiziert, desto besser für den gesamten Standort.”

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(Beitrag für die Publikation „Sachsen auf gestalteten Wegen“ 1999 des Sächsischen Staatsministeriums für Wirtschaft und Arbeit)

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