Von A wie Angeldoppelhaken bis Z wie Zick-Zack-Imme

Zum 100. Geburtstag von Ernst Fischer, dem vor vier Jahren verstorbenen Schöpfer der Suhler Nähmaschinen-Legende „Freia“

„Freia, warum gerade Freia? – Nein, an die germanische Göttergattin habe ich damals 1947/48 überhaupt nicht gedacht bei der Namenstaufe meiner Nähmaschine. Ein Kurzwort ist das bloß: Freia steht für Freiarm-Maschine.“
Als mir dies Ernst Fischer im Dezember 2001 daheim in seinem Wohnhaus am Stadtrand von Suhl erklärt, ist er für mich vorerst immer noch „nur“ der Konstrukteur und Gestalter eines der faszinierendsten technischen deutschen Nachkriegsprodukte, der – wie ich bis heute unbeirrt behaupte – schönsten und für ihre Entstehungszeit praktischsten Koffernähmaschine des 20. Jahrhunderts. Dafür spricht auch, dass die großen Gebrauchskunst-Museen und Design-Sammlungen der Welt sie längst in ihre Bestände aufgenommen haben oder aber danach trachten.
Nach der Rückkehr von diesem ersten Besuch beim damals 91jährigen Ernst Fischer ist mir zudem bewusst, dass ich hier einem in vielerlei Hinsicht außerordentlichen Menschen begegnen durfte. Einem universellen Technik-Pionier, mit goldenen Händen auch, was die Produktkultur seiner zahlreichen Erfindungen betrifft, einem musisch (er spielte vorzüglich Geige und nicht nur dieses Instrument) wie sportlich aktiven Thüringer Urgestein (erst mit 85 gab er den regelmäßigen Tennissport auf). Umso unerklärlicher: Die „Freia“ zählt seit jeher zu den Klassikern des DDR-Designs, aber eben nur sie allein ist bislang für die Fachwelt mit dem Namen Ernst Fischer verbunden.[paycontent] Kaum jemand brachte ihn mit der etwa zeitgleich entstandenen „Koma“ (Koffermaschine) in schlichtem Holzgehäuse in Zusammenhang, niemand wusste von der Ziernaht- und Zick-Zack-Automatik-„Imme“ danach und keiner, dass dieser vielseitig begnadete Ingenieur eine Reihe von Anlagen und Industrieprodukten entwickelt hatte, ohne die der ostdeutsche Staat wohl schon viel früher in die Knie gegangen wäre. Auch das Prinzip der Automatik-Antriebe aller später in Wittenberg produzierten und weltweit vertriebenen „Veritas“-Nähmaschinen stammt übrigens von ihm. Und dass jener Ernst Fischer gar noch am Leben war (und wie!), hatte außerhalb seiner Heimatstadt keiner der Chronisten der Industrie- und Designgeschichte der DDR, hatte keine einschlägige ostdeutsche Publikation bis zur Jahrtausendwende zur Kenntnis genommen. In Suhl hingegen, so weiß ich nun seit dem Zusammentreffen mit ihm, ist er auch nach seinem Eintritt in den Ruhestand als Techniker im Jahr 1975 eine hoch geehrte Persönlichkeit – als Thüringer Heimatforscher, Kartograf, Laien-Archäologe und Sprachforscher. Vor allem auch dafür wurde er 1993 mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet und ist zwei Jahre später Ehrenbürger von Suhl geworden.
„Aber wenn die wohl gewusst hätten, wie oft ich dem Adenauer mit meinen Erfindungen und Patenten eins ausgewischt habe“ schmunzelt er, als er mir das erzählt. Da sind wir in seinem Wohnzimmer umgeben von einer Ansammlung mit Boden- und Erzschmelzproben gefüllter Einweckgläser, im Thüringer Wald ausgegraben, unter anderem den einstigen Vorstoß der Kelten bis hierher belegend. Sein Kinn nachsinnend auf das vor ihm stehende Funktionsmuster der nicht in Produktion gegangenen Automatik-Nähmaschine „Imme“ lehnend, weiter: „Als in den Fünfziger- und Sechzigerjahren ein Bonner Wirtschaftsembargo nach dem anderen gegen uns erlassen wurde, setzten mich die betroffenen Ministerien oft als Feuerwehrmann in Trab, um das als Konstrukteur auszuhebeln: Fischer, lassen Sie sich um Himmelswillen bloß ‘was einfallen! Was mir oft auch gelang.“
Beispielhaft dafür steht diese Episode: Mitte der Fünfzigerjahre erlässt die Bundesregierung urplötzlich eine Liefersperre für medizinische Operationsnadeln gegen die DDR. Fischer, damals Leiter eines Suhler Entwicklungs- und Konstruktionsbetriebs der Vereinigung Volkseigener Betriebe EBM (Eisen-, Blech- und Metallwaren) und Spezialist für die Entwicklung von Sondermaschinen zur Kleinmetallfertigung, stellt sich ans Reißbrett und entwirft innerhalb weniger Wochen einen Vollautomaten für Angel-Doppelhaken, die bislang in Handarbeit gefertigt wurden. Vollautomat heißt: Oben wird der Angeldraht eingeführt, unten kommt das Endprodukt heraus, fertig. Eine absolute Weltneuheit. Die somit freigestellten Handarbeiterinnen des Betriebes können nun in Ichtershausen auf die höchst diffizile manuelle Herstellung von Op-Nadeln umgeschult werden. „Adenauers Nadelstich“ piekt nicht mehr.
Am Ende seines Berufslebens kann Ernst Fischer auf drei Dutzend nationale und internationale Wirtschaftspatente zurückblicken, auf eine der ersten überhaupt verliehenen „Goldenen Aktivistennadeln“ im Jahr 1948 und auf die ihm 1960 angeheftete Medaille „Verdienter Techniker des Volkes“. Sie wird aber auch die letzte staatliche Auszeichnung für ihn in der DDR sein.
Denn Fischer ist prinzipienfester Humanist und Pazifist und lehnt das Ansinnen ab, nun in die SED einzutreten. Schon einmal, 1937, da war er junger Flugzeugmotoren-Ingenieur bei Junkers in Dessau, hatte er sich widerspruchslos und „ganz gegen seine Natur als pazifistischer Wandervogelbewegter“, wie er sagt, durch einen Vorgesetzten mit anderen Mitarbeitern zusammen als Parteimitglied in der NSDAP „anmelden“ lassen. Nein, nie wieder in eine Partei, schon gar in eine Staatspartei. Und: im Suhler Ernst-Thälmann-Werk wird ab Mitte der Fünfzigerjahre die von Fischer wesentlich beeinflusste zivile Nachkriegsproduktion von Nähmaschinen und Benzin-Direkteinspritzdüsen für Pkw eingestellt zugunsten der Wiederaufnahme der Waffenfertigung. „Hier sollte ich nun eine leitende Tätigkeit übernehmen, nachdem in der Bundesrepublik die Wiederaufrüstung begonnen hatte. Man war wohl darauf gestoßen, dass ich schon während meines Ingenieur-Studiums von 1929 bis 1932, nach der Lehre als Mechaniker und Werkzeugmacher, hier bei Simson Suhl an einem Zeichnungssatz für eine Schweizer MPi gearbeitet hatte.“ Aber Ernst Fischer lehnt das Angebot ab. Kriegsproduktion kommt für ihn nie mehr in Frage. Bis 1975 darf er seine unenbehrlichen Fähigkeiten dennoch weiter einsetzen, nun im Rationalisierungsmittelbau.
Gefunden haben sich der Autor dieser Lobpreisung und der Vater so vieler technischer Wunderkinder übrigens durch einen puren Zufall: Bei einem Berlin-Besuch im Jahr 2001 stieß Ernst Fischer auf mein soeben erschienenes Buch „Penti, Erika und Bebo Sher – Klassiker des DDR-Designs“, in dem ich seine Freia auf einer Doppelseite feierte. Darüber hatte er sich so sehr gefreut, dass er den Kontakt zu mir suchte. Ich fiel aus allen Wolken, als sich „Ernst Fischer aus Suhl“ am Telefon meldete. Es entwickelte sich eine freundschaftliche Beziehung mit langen, auf Band dokumentierten Gesprächen über das Leben eines herausragenden Vertreters jener meist im Anonymen wirkenden Zunft, deren Schöpfungen mit dem Verlegenheitsbegriff „Ingenieur-Design“ bezeichnet werden, allzu oft auch nur abgestempelt. Unser letztes Telefongespräch führten wir an seinem 96. Geburtstag. Eine Woche später erhielt ich die Nachricht von seinem plötzlichen Tod.

FREIA
Die 1948 im thüringischen Suhl in Großserienproduktion gehende „Freia“ ist die weltweit
erste dermaßen ausgeklügelt-minimierte Freiarm-Koffernähmaschine mit integrierter Arbeitsleuchte. Wenige Handgriffe sind erforderlich, um das formvollendete mechanische Wunder in Minutenschnelle aufzubauen.
Was man ihm nicht ansehen kann: dass seinem rotbraunen Duroplastgehäuse Tausende von FDJ-Blusenfetzchen und -fasern beigemischt sind, Produktionsabfall der ersten Generation Blauhemden. Die Textilreste sorgten dafür, dass der Koffer-Plastwerkstoff unter der Presse stabil aushärteten konnte. Später mag wohl so manches der von Fahnenappellen und Maiumzügen verschlissenen Hemden wieder auf einer „Freia“ ausgebessert worden sein.
Hergestellt wurden die Koffer in Ottendorf-Okrilla bei Dresden, wo die sowjetischen Demonteure des Betriebes die 500-Tonnen-Presse übersehen hatten. Sie war ihren Augen unter dem Trümmerhaufen einer bombardierten Werkhalle verborgen geblieben.
Übrigens: der altgermanischen Freia, Göttergattin von Odin, dichtet die Sage ein „Falkengewand” an, das ihre Gestalt zu verändern vermag. Kaum anzunehmen, dass der gewitzte, verschmitzte Erfinder Ernst Fischer dies bei der Namensfindung ausgerechnet für eine Nähmaschine nicht doch mit bedacht haben soll. Von wegen „nur ein Kurzwort für Freiarm“…[/paycontent]

(Beitrag für Design Report, Heft 04/2010)

 

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