Wo Schuh-Design keine „plateaunische“ Liebeserklärung ist: SANOVA in Hohenmölsen
Design und Funktionalität – wenn Sie, meine Damen und Herren, die Hoffnung hegen, von mir jetzt einen artigen, strohtrockenen Exkurs zum mir vorgegebenen Thema zu hören mit vielen untermauernden oder schmückenden Zitaten aus berufenen Mündern, dann muss ich Sie leider gleich enttäuschen.
Nur eine generelle These von mir zu Anfang: Es ist trotz aller längst an den Hacken abgelaufenen Argumente und Interpretationen um „Design und Funktionalität“ immer noch eher die Ausnahme, dass uns Gestaltung und Funktionieren in optimaler Qualität begegnen. Denken Sie nur an die sogenannten „Bedienoberflächen“ moderner elektronischer Geräte. Man ist schon bedient, wenn man die Wälzer aufschlägt, die einem den Gebrauch eines Hightech-Videorecorders verraten sollen. Das ist das Normale. Alles andere ist immer noch ein Wunder.
Wenn aber Sich-positiv-Wundern für die Aussicht oder für den Rück-Blick auf ein schönes Funktionieren steht, dann befindet sich der heutige Tag und sein festlicher Anlass unseres Zusammentreffens hier in Hohenmölsen unter einem guten Stern. Wir sind zu dieser Stunde nämlich Augen- und Ohrenzeugen einer Kette von Wundern.
DAS ERSTE steht schon mal, in aller Bescheidenheit gesagt, vor ihnen – mit der leibhaftigen Erscheinung eines Design-Wortemachers hinterm Rednerpult, betraut mit der Aufgabe, den Festvortrag zu halten: zu einem so außerordentlichen – und für gewöhnlich von ordentlichen Politikern und ordentlichen Professoren festrednerisch begleiteten Ereignis wie der Einweihung eines Firmensitzes. Einer Produktionsstätte überdies, die nicht etwa Designerschmuck oder anderes Wohlstands-Kulturgut herstellt, sondern so etwas Hand- beziehungsweise Fußfestes wie Schuhe. Bequemschuhe und medizinische Spezialschuhe zudem!
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WUNDER NUMMER ZWEI: Dass wir uns hier, im mittleren Osten der Bundesrepublik Deutschland, treffen, um der Inbetriebnahme eines neuen Firmensitzes und Produktionsstandortes beizuwohnen zu dürfen. Wo doch der Produktionsstandort Deutschland insgesamt und Ostdeutschland insbesondere angeblich so unattraktiv geworden ist. Viel öfter als von Firmen-Neuniederlassungen hört man doch von Produktionsauslagerungen. SANOVA hingegen verspricht sich sehr zuversichtlich von diesem Standort, so im Firmenkatalog und im Internet zu lesen, „deutsche Wertarbeit“.
Da haben Sie nun aber wohl noch nicht gelesen, was der Hamburger Rechtssoziologe Thomas Roethe nach jahrelangen Studien vor Ort über die Arbeitsmoral der faul und verfressen am Sozial-Tropf herumhängenden Ossis schreibt. Sein Sachbuch unter dem Titel „Arbeiten wie bei Honecker, leben wie bei Kohl – Ein Plädoyer für das Ende der Schonfrist“ erschien ja auch gerade erst dieser Tage. Ich, als echter, eingeborener Ossi höchst interessiert an der Analyse, habe sie mir vorgestern direkt vom Eichborn-Verlagsbüro in Berlin geholt und bin mit erschütternden Bilanzen konfrontiert worden, die ich Ihnen nicht vorenthalten darf. Roethe schreibt:
„Die Menschen im Osten haben stets weniger geleistet, als sie für das Erreichen eines sich entwickelnden sozialistischen Wohlstands und den Fortbestand ihres Staatswesens hätten leisten müssen. (…) Sie haben über Jahrzehnte von der Substanz gelebt, (…) dann und wann einen Häftling gegen Westgeld verkauft, (…) Antiquitäten verhökert, den einen oder anderen bundesrepublikanischen Kredit verschlungen (…). Bei Lichte besehen, erschöpfte sich ihre Tätigkeit darin, sich zu nähren und zu kleiden, die eigenen Planerfüllungsprotokolle (…) zu fälschen und dabei an die selbstgestrickten Legenden zu glauben. (…) Wie halluzinative Sozialismus-Junkies sitzen sie nun da und warten auf die nächste Finanzspritze.“
Und wenn schon mal jemand, beispielsweise in Wernigerode, investiere, dann erlebe er hier den „reinen Wahnsinn“ , wie ein westdeutscher Mittelständler dem Autor gesteckt habe: „Die Beschäftigten erschienen zwar pünktlich im Betrieb, bis sie aber bereit seien, die Arbeit aufzunehmen, vergingen regelmäßig mehr als 30 Minuten. (…) Dagegen sei einfach nicht anzukommen.“ Weil nämlich, so die abschließende Diagnose: „Die angeblich so friedliebenden Bewohner der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik und deren Kinder sich als eine Gesellschaft erweisen, in der Biedersinn und Brutalität (…) Arm in Arm gehen.“
Da kann man Ihnen wohl nur kräftig die Daumen drücken, liebe Frau Zorn und lieber Herr Schettler, wenn Sie in solch ein Sodom und Gomorrha investieren. Alle Achtung vor Ihrer Risikobereitschaft!
WUNDER NUMMER DREI, aber nun ganz und gar ohne Sarkasmus benannt: Die neue Produktionsstätte von SANOVA ist keine dieser ratz-batz aus dem Leichtbau-Serien-Katalog hingehuschten gängigen Gewerbegebiets-Immobilien mit vorgehängter Disneyland-Kulissenfassade, sondern Solidität verkörpernde Industrie-Architektur, Industriekultur – entworfen und gebaut nicht als Abschreibungsobjekt, sondern eindeutig ablesbar konstruiert nach dem so bezeichneten „Offenen Prinzip“ funktionalistischer Gestaltung: Offen für langfristig-synergetisches, transparentes Wirken von Management, Qualifizierungs- und Produktionsprozessen unter einem Dach, offen auch im Sinne von ausbaufähig – für organische Erweiterungen und logistische Veränderungen in der Arbeitswelt von morgen.
Und schließlich WUNDER NUMMER VIER (und nun wiederum mit dem erstgenannten, mit meiner Berufung zum heutigen Festredner unmittelbar zusammenhängend): Dass mir als Thema für meinen Vortrag die Begriffspaarung FUNKTIONALITÄT UND DESIGN vorgegeben wurde. Ein Wunder ist diese Themenwahl insofern, als dass mittelständische deutsche Unternehmen heute für gewöhnlich immer noch mit öffentlichen Fördermitteln zum Wirtschafts- und Kulturfaktor Design getragen werden müssen wie der sprichwörtliche Sonntagsjäger zum Hasen.
Dass Reden über Design nun ausdrücklich Protokoll-Teil einer öffentlichen Unternehmensfeier ist, betrachte ich wirklich als ein Phänomen – das aber eben sehr deutlich Bände spricht über die progressive Unternehmens-Philosophie der Investoren in Hohenmölsen.
Also: Sprechen wir nun endlich doch mal über „Design und Funktionalität“. – Wobei: Mein einleitender Exkurs über das Wunderbare unserer Begegnung hier und heute hatte ja schon durchaus mit dem Thema zu tun: So absolut überzeugt ich nämlich bin, dass die unternehmerische Idee, der Entwurf, also das gute, das schlüssige und stimmige Management-„Design“ der SANOVA-Geschäftsführung hier in Hohenmölsen funktioniert, so sicher bin ich mir allerdings auch, dass das rungsige Tiefschlag-Wort-Design des eingangs zitierten Autors guten Absatz im Buchhandel finden, insofern also ebenfalls funktionieren wird. So, wie ja bekanntlich auch besonders blöde oder abstoßende Werbung ihre wohlkalkulierte Wirkung zeitigt: Man speichert, ganz gegen den eigenen Willen, die Botschaft, eben weil sie einem auf den Geist geht, weil sie so grotesk ist.
Diese letztere Erfahrung nun steht aber im krassen Widerspruch zu zwei Wahlsprüchen, die in goldenen Lettern überm Eingang zur streng-funktionalistischen Designer-Welt prangen. Der eine lautet: „Form follows function“, ist genau 100 Jahre alt und stammt von einem der Väter der modernen Architektur, Louis Sullivan. Der andere, von dem amerikanischen Design-Pionier Raymond Loewy 50 Jahre später geprägt, heißt: „Hässlichkeit verkauft sich schlecht“. Da kann ich aber nur sagen: Schön wär’s. Dann wären alle Kitsch- und Schundproduzenten längst eingegangen, und wir würden überall nur Wahres und Schönes in den Geschäftsauslagen vorfinden.
Tatsache ist doch wohl vielmehr, dass auch in der Gesundheits- und Spezialschuh-Zeitrechnung vor SANOVAs Bekenntnis zum schön gestalteten „Bequemschuh“ sich die üblichen (unförmigen) orthopädischen Ledergurken gut verkauften, und dass deren rein zweckorientiertes „Form-folgt-der-Funktion“-Erscheinungsbild mit Design als ästhetisch-funktionaler, also auch emotional positiv ansprechender Gestaltung überhaupt nichts am Hut beziehungsweise am Schnürsenkel hatte. Dennoch war und ist dieses (ja durchaus auch noch immer so existierende) Schuhwerk gestaltet, sind seine Zweckbestimmung und Form auch erst einmal lange durch Köpfe gegangen, ehe das durchaus funktionsgerechte Ergebnis die Füße der ohnehin leidgeprüften Kunden dann noch optisch verunzierte. So, als käme es aber auf das äußere Finish nicht mehr an, wenn man nur ordentlich gestützt und fußgebettet wäre. Ja: Man erwartete bislang nachgerade, dass ein Paar orthopädischer oder sogenannter „Gesundheitsschuhe“ irgendwie ein bisschen bodenständig-plump daherkäme. Fehlten nur noch die drei gelben Behinderten-Punkte auf der Kappe. Aber das wäre ja vielleicht sogar schon wieder eine diskutable Design-Idee.
Die gestalterische Ignoranz dieser Produktgruppe gegenüber ist um so verwunderlicher, als dass der Schuh an sich doch im Verlaufe seiner vieltausendjährigen Entwicklungs- und Kulturgeschichte stets ein außerordentlich bevorzugtes Gestaltungs-Subjekt und Prestige-Objekt war – von der Goldsohlen-Sandale römischer Kaiserinnen bis zum derzeitigen Plateausohlen-Durchmarsch, der ja übrigens schon mal in den siebziger Jahren um den Erdball stakste.
Von meiner Mutter her habe ich noch den Satz im Ohr: „An den Schuhen erkennt man den Menschen!“ Den bekam ich jedenfalls immer zu hören, wenn ich mich mit ungeputzten Tretern auf den Schulweg machen wollte. Aber er hat ja in der Tat eine viel tiefere Bedeutung. Schuhe sind, ob lackiert oder Botten, Charakter-Boten. Apropos Plateau-Schuhe: Die bieten sich mir geradezu als Musterbeispiel an, als wunderbare Metapher für ein generelles Problem der Beziehungskiste „Design und Funktionalität“: Diese Beziehungskiste nämlich steht – designtheoretisch – auf durchaus ähnlich unsicheren Beinen wie die Trägerinnen und Träger jener hervorragenden Exemplare Schuh-modischer „Hoch-Kultur“. Ich erwähnte es ja bereits: Funktionalität funktioniert offensichtlich auch ohne Design. Siehe Gesundheits-Fußbekleidung alten Stils. Das ganze hinkt dann zwar ästhetisch, aber „‘s paßt schon!“, wie der Wiener sagt. SANOVA ist da in der Branche wohl ein Kultur-Rebell. Allerdings mit dem Zeug zum wahren Design-Revolutionär, wenn das Werk hier in Hohenmölsen erst mal richtig loslegt, meine ich.
Übrigens: So, wie purer Utilitarimus durchaus solange verkäuflich ist, wie es nichts Besseres gibt, findet andererseits auch Design per se, als modisch-gestalterischer Selbstzweck, durchaus seine Liebhaber. Mitunter sogar massenhaft. Siehe eben die Schuhe mit der geh-technisch-funktional nicht nur absolut unnötigen, sondern unter Umständen sogar tödlichen 20-Zentimeter-Sohle. Manche der Trägerinnen mag womöglich am Ende unfreiwillig in einem SANOVA-med-Produkt landen… Aber: Die Plateaus sind ja auch eigentlich gar kein „Schuhwerk“, kein Produkt-Design mehr, sondern in Wahrheit pures Kommunikations-Design. Sie funktionieren übers Kommunizieren: „Ich gehöre dazu – zur Generation, die über den Dingen steht und wandelt. Trotz, ja eben: TROTZ ,No future’. Ihr alten Politversager und Pauker könnt uns mal am…, und dazu braucht ihr euch jetzt nicht einmal mehr so tief zu bücken, dass euch der Kalk aus der Hose rieselt.“ So ungefähr steht es imaginär auf den Plateaus, diesen wandelnden Denkmal-Sockeln unserer Super- Teenies. Die kennen nicht McLuhan, nur Mac Donald – aber mit ihren Schuhen lässt McLuhan grüßen: „Das Medium ist die Botschaft.“ Allerdings, auch SANOVA-Schuhmodelle kommunizieren: Nämlich, dass Funktionalität und Design nicht nur ein zusammengehörendes Paar sind im Sinne von „Funktion plus Design“ (respektive Styling). In jedem Modell ist sowohl Funktionalität in sich Design, als auch dass Design selbstverständlich Funktion mit sicherstellt, ja optimiert. Nicht zuletzt jene Funktion, der Trägerin und dem Träger einen so fußgerecht wie gesellschaftlich sicheren, ja beschwingten Auftritt zu ermöglichen.
Wo SANOVA draufsteht, ist Funktion nicht bloß in Design verpackt, sondern integriert. In diesem Sinne ist die neue Produktlinie „Il Poeta“ übrigens sehr zutreffend benannt: Poesie, Dichten hat mit Ver-Dichten zu tun, mit kunstvollem, gekonntem Komprimieren und Ineinanderfügen; mit einer Kunst, die ja der Nestor deutscher Fußwerk-Handarbeit Hans Sachs überzeugend beherrschte: als Schuhmacher wie als „Il Poeta“ – als Dichter. In so fern ist es überhaupt die Frage, ob SANOVA mit seiner Hohenmölsener Firmen-Philosophie nicht viel eher ein vortrefflich traditionsbewusstes, denn ein revolutionäres Unternehmen der Schuhbranche ist, ein konservatives im besten Sinne des Wortes – alte Tugenden innovativ bewahrend und aufhebend.
Übrigens – um hier am Ende doch noch einmal auf die Spezies der eingangs zitierten ostdeutschen Faultiere und Kulturbanausen zurückzukommen: Ich denke schon, dass SANOVA als Design-bewusstes Unternehmen mit seinem Standort Hohenmölsen doch eine glückliche Wahl getroffen hat: Anerkanntes Design hatte nämlich auch schon zu DDR-Zeiten hier ein Zuhause. Bei den von 1978 bis 1990 jährlich zweimal, jeweils zu den Leipziger Messen, vergebenen Industrie-Auszeichnungen „Gutes Design“ standen Schuhe aus Weißenfels und Umgebung mehrfach auf dem Siegerpodest, und ein Produktentwickler von hier gehörte sogar als einer der ersten zur kleinen Elite der mit dem „Designpreis der DDR“ ausgezeichneten Vorzeige-Gestalter.
Nun gut, die DDR-Zeiten haben wir uns aber wirklich an den Hacken abgelatscht, wie man im Sächsischen und Anhaltischen so schön sagt. Also: Auf ein Neues in Hohenmölsen, ganz im Sinne von Alt-Rocker Udo Lindenberg, der in einem seiner neuesten Lieder rappt: „Ich hab die Schuhe an mit dem speziellen Absatz dran, auf dem man sich nicht umdreh’n kann. Wer stehen bleibt, geht zurück.“
In diesem Sinne also: Vorwärts mit SANOVA – und nicht vergessen: Auch in Sachsen-Anhalt sind wieder Lorbeeren bei einem Landes-Designpreis zu gewinnen! Ich betone das auch als Mitglied der Jury für den diesjährigen Marianne-Brandt-Preis und kann, bei aller natürlich gebotenen Unparteilichkeit, SANOVA angesichts der uns vorliegenden famosen Kollektion nur ermuntern, auf flinken Sohlen sich mitzubewerben. So lassen Sie mich nun auch mit einem Zitat der berühmten Bauhäuslerin Marianne Brandt enden, aus ihrem in hohem Alter geschriebenen „Brief an die junge Generation“. In ihm steht als ihr Vermächtnis: „dass ein Ding zweckdienlichst in seiner Funktion und materialgerecht schön sein“ müsse. SANOVA tritt offensichtlich in diese Fußstapfen.
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(Festvortrag von Günter Höhne am 25. September 1999 zur Einweihung der neuen Schuhfabrik in Hohenmölsen b. Leipzig)