Drei Wahrnehmungen zu Margarete Jahnys Arbeiten

Die erste: Befasst du dich mit dem Lebenswerk eines Menschen, der wie Margarete Jahny vor allem Gegenstände des Alltagsgebrauchs, der Massenkultur geschaffen hat, so bekommst du sehr bald – bisher gleichmütiger Nutzer des einen oder anderen Produktes – eine völlig neue Sicht, einen anderen, ja überhaupt erst wirklichen Begriff von den Dingen. Diese bislang anonymen Objekte werden, da du jetzt um ihre Geschichte und Geschichten weißt, zu dialog- und diskursfähigen Subjekten. Hast du sie vorher buchstäblich hingenommen (zählten sie doch zum selbstverständlich Anwesenden bei deinen täglichen Verrichtungen), so hältst du nun nach ihnen Ausschau, bei dir und anderswo, wie nach guten Bekannten, ja Freunden. Und du wirst feststellen: Sie sind immer seltener anzutreffen. Auch sie.

Da freust du dich wie ein Kind, wenn du in einer kleinen Mecklenburger Landgaststätte heute unverhofft den Kaffee im RATIONELL-Portionskännchen serviert bekommst – das du doch vor zehn Jahren eigentlich nicht mehr sehen mochtest, weil es weit und breit das vorherrschende im Gastronomie-Entwicklungsland DDR war. Mal mit Mitropa- oder Konsum- oder Centrum-Warenhaus-Signet versehen, mal mit grünem, braunem oder blauem Banddekor. Keine Werkskantine ohne RATIONELL.[paycontent]

Auch den unverwechselbaren Wirtegläser-Nachfolgern SUPERFEST, so ganz ohne Goldrand und Brauerei-Werbeaufdruck, nickst du verschwörerisch zu: Ha, dich kenne ich! Und beim Trinken des zweiten oder dritten Bieres – nein: befällt dich nicht die viel zitierte „DDR-Ostalgie“, sondern kommt dir (jedenfalls mir) die einheitsbejahende Erkenntnis: Mensch, hier ist wirklich zusammengekommen, was zusammengehört: das nach deutschem Reinheitsgebot gebraute bayrische, friesische oder westfälische Qualitätsstandard-Bier im Lausitzer Qualitätsstandard-Glas, und auch der Bremer Kaffee im Colditzer Geschirr schmeckt in Mecklenburg genau so gut wie in Baden-Württemberg. Nur dass ich den in Stuttgart natürlich nicht im RATIONELL-Kännchen serviert bekomme und die bayrische Zenzi sich über das komische Schwepnitzer Gläschen ohne Henkel krummlachen würde.

So bleibt doch bei allem Einigwerden auch jedem sein Eigenes. Aber halt, nicht wirklich. Die bayrische Moaß und das Wiesnbier sind und bleiben und die Münchner, Bremer und Hamburger Kaffeeköstlichkeiten auch. Die SUPERFEST-Gläser aber werden immer rarer, und RATIONELL ist auch nur selten noch in Gebrauch. Wo es zwischen 1970 und 1990 massenhaft produziert wurde, im sächsischen Colditz, ist nur mehr ein letzter Muffelofen in Betrieb, an dem fünf Leute arbeiten. Was eigentlich, ist nicht zu erfahren – jedenfalls längst nicht mehr rationell, klein wie groß geschrieben. Und in Schwepnitz bei Kamenz wird heute aller möglicher Glasplunder hergestellt, aber kein Ersatz mehr für die gelegentlich doch entzwei gehenden superfesten Wirtegläser.

Da fällt dir auch noch vieles andere, Nicht-Jahnysche ein, das dich früher ständig begleitete: Die typische Getränke-Einheitspfandflasche mit dem geriffelten Kragenrand oder die ALUWA-Brotbüchse mit dem gehämmerten Deckel oder die praktische Weichplast-Seifendose mit Scharnier-Deckel von Pneumant, die sich, blind unter der Dusche, so leicht greifen und mit einer Hand öffnen und schließen ließ. Ja, diese Dinge sind versunken oder am Versinken, und Repräsentanten der industriellen Alltagskultur des zu Ende gehenden 20. Jahrhunderts sind nun mal keine Kunsthandelsware, die noch eine Überlebenschance wenigstens im Antiquitätenhandel hätte. Höchstens eine letzte Gnadenfrist auf Trödelmärkten. So augen- und handfreundlich sie auch waren – wenn ihre Zeit abgelaufen ist, wenn sie individuell abgenutzt oder technologisch überholt oder anscheinend gesellschaftlich erledigt sind, gibt es kein Überleben und kein Auferstehen. So das nach Umsatz durch Innovation schreiende Gesetz eines Marktes der Wegwerf- und Ersatz-Befriedigungen.

Aber schauen Sie sich den Wirtschaftsglassatz EUROPA an, Margarete Jahnys Alfi-Isolierkannen und das Topfsortiment „Vom Herd zum Tisch“ – sind das Sachen von gestern, entbehrliche? Offenbar. Die Wertheimer Alfi-Firmenleitung von heute jedenfalls hat „kein Interesse“, die schlanke Jahny-Kanne neu aufzulegen, wie man mir sagen ließ. Was „unter den Kommunisten“ bei Alfi entstand, wird nicht noch einmal gepresst und legiert, sondern negiert.

Zweite Wahrnehmung:

Bei den Recherchen zu meiner Margarete-Jahny-Monographie „Die Anmut des Rationalen“, die heute hier in Dessau Premiere hat, sah ich mich auch in den aktuellen Haushaltwaren- und Porzellanabteilungen von Kaufhäusern um. Am Berliner Alexanderplatz stieß ich auf die reich bestückte Großvitrine mit einem Firmenzeichen, das mir seit der näheren Beschäftigung mit Margarete Jahny sehr vertraut geworden ist: dem des Zierporzellanwerkes Wallendorf in Thüringen. Die hier in unserer kleinen Dessauer Produktschau zu sehenden schönen weißen Glieder- und Kragenvasen aus den Sechzigerjahren stammen von dort, und in meinen Buchkapiteln „Vasen“ und „Wie man Waren und Zensuren verteilt“ ist nachzulesen, welches Schicksal sie und der sie produzierende Werkdirektor vor fast 40 Jahren nahmen in Auseinandersetzung mit dem staatlichen Handel und dessen Verlangen nach zu steigernder Kitschproduktion, so genannten „Mattfleischfiguren“. Als ich diesen Begriff von Margarete Jahny das erste Mal erwähnen hörte, fasste ich ihn als einen aus dem typischen technokratischen DDR-Handelsjargon auf.

In besagter Berliner Kaufhausvitrine vom Frühjahr 1998 nun: keine einzige feine weiße Vase, aber Heerscharen von „hochwertigen“ Nippesfiguren. Ballerinen, Nackedeis, Liebespärchen. Ich frage die Verkäuferin: „Wie läuft denn das Mattfleischfigurengeschäft?“ – damit rechnend, einen verständnislosen Blick ob dieses doch etwas unappetitlichen Wortes aus vergangenen Zeiten zu ernten. Die Antwort kommt prompt und ohne Wimpernzucken: „Die Mattfleischfiguren aus Wallendorf ? Bei denen haben wir teilweise wochenlange Kundenwartezeiten!“

Dritte Wahrnehmung:

Margarete Jahny hat zeitlebens nützliche und schöne Dinge für die serielle Produktion entworfen, aber je intensiver ich mich mit ihnen und ihrer Schöpferin vertraut machen konnte, um so mehr ist mir auch eines deutlich und schmerzlich-mitfühlend bewusst geworden: Im Dienste der Industrieform, für den sie sich als Studierende an der Dresdner Kunsthochschule bei Mart Stam und Marianne Brandt begeistert entschied, musste sie sich von vielen individuell-schöpferischen, sensibel-künstlerischen, frei schwebenden Gestaltungs-Träumen verabschieden. Einige wenige konnte sie in kunsthandwerklichen Gefäß-Unikaten sozusagen „nebenher“ verwirklichen, und es ist ein großes Glück, dass sie die bis heute wohl verwahrt hat und wir auch diese nun hier sehen können.

Unser aller Glück ist es aber, dass sich manches von diesen Träumen, von diesem Vermitteln menschenfreundlicher Formenkultur mit ihren harmonischen Linien und Radien auch in den Alltagsentwürfen artikulieren konnte. Sind die Alfi-Isolierkannen nicht von einer einzigartigen skulpturellen Anmut? Hat RATIONELL, gemeinsam mit dem vortrefflichen Form-Systematiker Erich Müller entworfen, bei aller standardisierten Stapelfähigkeit nicht einen unverwechselbaren, eigenen Charakter? Vielleicht vermögen auch Sie, liebe Gäste, beim heutigen Bekanntschaftschließen mit den Arbeiten Margarete Jahnys – in dieser kleinen Ausstellung hier und gern auch in meinem Büchlein – das eine oder andere Serienprodukt künftig mit anderen Augen zu sehen. Lassen Sie mich schließen mit einem Wort von Heinrich Böll, der ja der Generation Margarete Jahnys angehörte, und das er vor genau 35 Jahren in einer seiner legendären Frankfurter Vorlesungen aussprach: „Die Humanität eines Landes lässt sich daran erkennen, was in seinem Abfall landet, was an Alltäglichem, noch Brauchbarem, was an Poesie weggeworfen, der Vernichtung für wert erachtet wird.“

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(Laudatio von Günter Höhne zur Buchpremiere und Ausstellungseröffnung „Margarete Jahny – Arbeiten für die Serie 1951–1990“ am 22. Mai 1998 in Dessau anlässlich des 75. Geburtstages der Künstlerin und Formgestalterin.)

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