(Eröffnungsrede zur Ausstellung „Es war einmal… DDR-Alltägliches aus der Sammlung Kraiss/Reuter“ am 20. Mai 2011 im Fränkischen Museum Feuchtwangen)
Von Günter Höhne
Ich habe eine Zukunftsvision, und ich sage Ihnen gleich: das ist mir kein Wunschbild. Ich sehe Historiker, Alltagskultur-, Design- und Kunstinteressierte in einhundert, zweihundert Jahren in deutschen Museen nach Zeugnissen nationaler Industrie-Produktkultur-Höhepunkte suchen, und sie werden mit der verstörenden Erkenntnis nach Hause gehen, dass es so etwas ganz offensichtlich nur im Osten Deutschlands gab, und zwar auch nur 45 Jahre lang, von 1945 bis 1990. Und wenn die Leute dann rätseln, wie das denn sein könne, werden sie womöglich auf diese alles erklärende schlichte Lösung treffen:
Nach dem Ende der DDR und dem Beitritt Ostdeutschlands zur Bundesrepublik Deutschland setzte ein regelrechter Eroberungsansturm auf die Sachzeugnisse des abgeschlossenen Sammelgebiets DDR-Design ein – und zwar fast ausnahmslos zunächst aus westlicher Richtung wehend. Der gemeine Ossi hatte hingegen nichts Eiligeres zu tun, als seinen eigenen Mist, wie er meinte, schleunigst aus den Geschäftsauslagen wie auch aus dem eigenen Haushalt zu entsorgen und sich nun endlich auch mit den Gütern des Goldenen Westens auszustatten. Dass da viel Katzengold darunter war, merkte später dann auch er.
Der schlaue Wessi (und übrigens nicht nur der deutsche, sondern auch so mancher holländische und dänische beispielsweise) sah diesem kopflosen Treiben verwundert zu und machte sich seinerseits auf die Socken, um viele von den soliden, handfesten, funktionalen, verdammt haltbaren und so irgendwie anders ansprechenden, ja schönen Sachen, die jetzt als Sperrmüll vor den ostdeutschen Haustüren sich türmten, einzusammeln und zu sich nach Hause zu kutschieren.[paycontent]
Die einen waren auf das für sie immer wieder überraschend Schöne und Nützliche erpicht, andere auf Kurioses, Putziges, plebejisch Einfältiges, wieder andere auf Staatsinsignien, Devotionalien, Medaillen- und Abzeichenramsch oder auf Militärhinterlassenschaften, einige wenige Kenner auch auf Literatur und Musikproduktionen aus den DDR-Jahrzehnten. Und jeder bekam, was er suchte; auch Bücher und Platten landeten ja haufenweise in den Abfall-Großcontainern.
Dann geschah das, was in letzter Konsequenz zu dem führen kann, was ich eingangs als ernüchternde Zukunftsvision ausmalte: Beim Sichten der Beute entdeckte so mancher kultursinnige Entdecker und Sammler, dass ja wirklich da drüben „doch nicht alles schlecht“ war, wurde neugierig und überhaupt gierig auf mehr und traf hier und da auf weiteres Überraschende, ja sogar Begeisternde: Spitzenoptik aus Jena und Rathenow, Fotokameras aus Dresden, in aller Welt begehrte Nähmaschinen aus Wittenberge, modernstes Feinporzellan aus Thüringen, unheimlich praktische Lausitzer und Jenaer Glaswaren, superfunktionale Montage-Möbel der Deutschen Werkstätten Hellerau, Fröbel-Holzspielzeug aus Werdau, HiFi-Anlagen aus Sonneberg und Berlin, unverwüstliche, handliche und reparaturfreundliche Haushaltgeräte aus Suhl, Edelstahlwaren vom Feinsten aus Aue im Erzgebirge, dort schon Anfang der Sechzigerjahre entwickelt und italienischem Alessi-Design absolut das Wasser reichend.
Jetzt fingen die klügsten Einsammler an, ernsthafte und zielsichere Sammler zu werden – und zwar nicht nur von Dingen, sondern auch von deren Geschichten, soweit sie diese überhaupt noch in Erfahrung bringen konnten. Und sie wollten die Dinge und die Geschichten auch nicht mehr für sich allein behalten oder verscherbeln, sondern mit-teilen – und gründeten zunächst kleine Museen, manchmal in holländischen Garagen oder in dänischen Scheunen, aber auch und immer öfter in Deutschland, in den neuen Bundesländern. Wie gesagt: fast alles „West“-Initiativen. (Wie übrigens dann auch die dümmliche „Ostalgiewelle“ eine clevere Marketing-Idee aus dem Westen war.) Und aus kleinen Kennerkreisen erwuchsen profunde Vereine, die professionelle Sammlungen und Museen dort installierten, wo sie wieder in das hineinwachsen sollten, wohin sie gehörten, woher ihre Bestände her stammten:
So war es der promovierte Westberliner Kulturhistoriker Andreas Ludwig, der Mitte der 90er Jahre die Gründung des Vereins „Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR“ initiierte und im brandenburgischen Eisenhüttenstadt (früher einmal Stalinstadt) auch ein wunderbares Gebäude reinster Baukultur der in den Fünfzigerjahren so genannten „sozialistischen Architektur der nationalen Tradition“ fand, in dem man forschen, sammeln und schließlich ausstellen konnte. Ich halte es für das heute wissenschaftlich profundeste, anständigste, untendenziöseste Museum seiner Richtung in Deutschland.
In Chemnitz (in der DDR zwischendurch einmal mit der zweifelhaften Ehre bedacht, Karl-Marx-Stadt heißen zu dürfen bzw. zu müssen), in Chemnitz also ist es der hoch engagierte und dabei finanziell stets unterernährte gemeinnützige Verein „Sächsisches Industriemuseum“, der neben seinem Haupt-Haus in einer ehemaligen Chemnitzer Fabrik in weiteren Orten Westsachsens Flagge mit ostdeutschem Produktkultur-Erbe zeigt und der DDR-Designgeschichte hierbei große Bühne einräumt. Gründer und Museumsdirektor: ein Wessi, Dr. Jörg Feldkamp.
Ein drittes Beispiel: das Museum „Zeitreise“ in Radebeul bei Dresden. Beide Geschäftsführer sind ebenfalls Westdeutsche (ehemalige, muss man ja mittlerweile schon sagen), kommen aus dem technischen und kaufmännischen sowie dem Ingenieursbereich und stellen in einem fünfstöckigen, nach der Wende aufgelassenen Industrie-Plattenbau akribisch dar, wie es sich zwischen 1945 und 1990 im Osten lebte und arbeitete. Von fahrbaren Untersätzen aller Art und Jahrgänge über beispielsweise auch eine komplett 1:1 hierher verpflanzte Mechanikerwerkstatt bis hin zu Wohnungsein- und Produktüberblicken bietet die Schau, in der man staunend Stunden zubringen kann, authentische und damit natürlich auch durchaus kritische Ansichten dessen, was dereinst die Dinge und die Umstände des Lebens in der DDR ausmachten. Auch hier ist ein Fokus auf Qualitäten der industriellen Produktkultur zu bemerken.
Das Nützliche, Ansehnliche, Gescheite an ostdeutschen Produkt-Hinterlassenschaften war und ist hier in den sachlich-kritischen Händen wirklich Aufmerksamer, ernstlich Interessierter und Bewahrender – oder eben doch auch in den Haushalten verblieben, wo man inzwischen dahinter gekommen war: Unser ganz einfach praktischer und handfester Kram von „damals in der DDR“ versieht ja immer noch seinen Dienst, zuverlässiger als manches gestylte Wegwerf- und Einweg-Zeugs von heute.
Bei all dem nichts da mit „Ostalgie“. Erst als diese Welle der Albernheiten über die so genannten Neuen Bundesländer schwappte, entdeckten plötzlich auch schlichte sächsische, Thüringer und Mecklenburger Eingeborenen-Gemüter, dass sich darauf prima mitsurfen ließe. Scheunen- und Garagenmuseen öffneten zwischen Prerow und Plauen ihre Pforten, und meist waren es gar keine Ewiggestrigen, sondern heurige junge Hasen der Generation Spaßgesellschaft, die hier rasch zusammengescharrt hatten, was noch zu ergattern war. Und das waren nun in der Regel nur noch schäbige Reste, die suggerierten: So haben wir, unsere Eltern und Großeltern gelebt – und wie war man war fröhlich dabei! Ausgerechnet das in stumpfen Pastellfarben daherknatternde, brenzlig stinkende motorisierte Marterinstrument TRABANT wurde zum Leitsymbol fürs DDR-Design, gefolgt von den Plastehühner-Eierbechern, Dederon-Küchenschürzen, Bakelit-Kabeltrommeln, Aluminium-Essbestecks, Tempo-Erbsen und Sprachlos-Zigarren. Wer’s bisher immer noch nicht gewusst hatte, erfuhr es jetzt: wie dämlich-putzig der Alltag im Mangel- und Misswirtschaftsland DDR aussah und wie doof die Ossis gewesen sein mussten, die doch tatsächlich sich damit jahrzehntelang zufrieden gegeben hatten. (Übrigens gab hier eine Großformat-Billigschwarte aus Köln mit dem Titel „SED. Schönes Einheits-Design“ lautstark den Ton an.)
Also wurde mit den putzigen verbliebenen Resten auf Ostalgie-Festen auch das Leben in der DDR zum schrillen Comic verniedlicht, avancierte das Ampelmännchen zum Wappensymbol ostdeutscher Alltagskultur, glotzten wieder Ulbricht- und Honecker-Konterfeis von den Wänden in Ostalgie-Szenekneipen und trank man dazu nicht Krombacher oder Jever, sondern „das Bier von hier“, das ja aber in Wahrheit längst schon von Westbrauereien geschluckt worden war, so wie die Ostzigarettenmarken F6 und KARO flugs von angloamerikanischen Tabakkonzernen in die Tasche gesteckt.
Sollten wir uns da wundern, wenn der brave „Altbundesbürger“, als er sich ab Mitte der Neunzigerjahre dann doch zaghaft zu ersten touristischen Ausflügen nach Ostdeutschland entschloss, die Überzeugung gewinnen musste: Wie erbärmlich die hier dahingedämmert haben! Ist das ihnen ja von den Eingeborenen selbst so demonstriert worden auf jenen Ostalgie-Partys und entsprechenden Märkten. Und das Ganze wurde dann auch noch mit dem Gütesiegel „Das ist Kult“ versehen. „Kult“ – schauen Sie sich mal das Wortbild genau an: Kult ist amputierte Kultur.
Ist es nicht immer wieder buchstäblich verrückt, was unsere „Wahrnehmungen“ vom Anderen, vom Fremden betrifft? Ich verrate Ihnen jetzt einmal, was ich dereinst als typisch für „den Westen“ hielt, als ich, ein DDR-Jüngling, noch keinen Erlebnis-Kontakt zur real existierenden kapitalistischen Bundesrepublik hatte und auch kein Fernsehen zu Hause in Ostsachsen, im „Tal der Ahnungslosen“. Was ich damals, in den Endfünfziger- und Sechzigerjahren sammelte, festhielt, wenn es in meine Hände gelangte, etwa aus dem Weihnachts-Westpaket, das waren: Zigarettenschachteln, Keks- und Konfektblechdosen, das exotisch bedruckte Seidenpapier, in das die Apfelsinen eingewickelt waren, eine echte Coca-Cola-Flasche, und das Geschenkpapier bügelten wir sowieso nach dem behutsamen Auswickeln auf, um es weiter zu verwenden. Und da waren noch die Briefmarken natürlich, wenn wir Westpost erhielten. Wobei ich unsere meist schöner fand (und mein Brieffreund in Bremen übrigens auch).
Von BRAUN-Radiogeräten, von WMF-Tafelgerät, Rosenthal-Porzellan und Zwiesel-Glas – keine Ahnung natürlich. Nun gut, den Käfer kannte ich. So wie jeder Wessi lange vor der Wiedervereinigung auch schon den Trabi.
Ich habe also heute tiefstes Verständnis dafür, wenn der Eierbecher- und Dederon-Einkaufsnetze-Ramsch und F6 und KARO und die hähnchenkeulenförmige Plaste-„Luftdusche“ als DAS TYPISCHE ostdeutscher Warenkultur betrachtet werden. Ich konnte mir Anfang der Neunzigerjahre ein eigenes, vollständigeres Bild von der Alltagskultur in der Bundesrepublik machen und musste dazu nicht einmal mehr verreisen – sie kam zu mir nach Hause. Der damalige Bundesrepublikaner traf im Osten fast nur noch auf jenen allgegenwärtigen Bodensatz einer sozialistischen Produkt- und Alltagskultur.
Ein West-Ost- oder Ost-West-Wahrnehmungsproblem? Ich behaupte, der Hund liegt tiefer begraben: Was wissen wir denn überhaupt, alles Ideologische beiseite lassend, von den Dingen, die unser Leben wirklich und stets und ständig und dabei oft unbemerkt beeinflussen, ja dauerhaft prägen? Was wissen wir von ihren Entwicklungs- und Lebensgeschichten – ja und interessieren sie uns denn eigentlich? Fragen Sie doch einmal die Leute auf der Straße nach den Namen deutscher Designer und gar nach deren Entwürfen oder Produzenten! Wer aber die neueste Pappnase bei DSDS ist – wenn Sie DAS nicht wissen, sind Sie blöd und lebensfremd. Die Dinge, die uns buchstäblich täglich berühren, angenehm oder unangenehm, die sind wie selbstverständlich anonym, irrsinnigerweise sind ausgerechnet sie anscheinend irgendwie – ja: gegenstandslos für unsere kulturelle Wahrnehmung. Wie übrigens genauso in aller Regel die gebaute Alltags-Umwelt.
Leider trifft das größtenteils auch auf die Wahrnehmung durch professionelle Kultur- und Kunstkritiker in den Medien zu. Jede alberne Provinztheater-Inszenierung findet eher eingehenden Widerhall im deutschen Feuilleton als eine noch so revolutionäre, menschendienliche serielle Produktkultur- (also Design-)Innovation. Und warten wir einmal ab, wie viel Spalten-Raum oder Sendezeit dieser heute eröffneten Feuchtwanger Dinge-Ausstellung eingeräumt wird in den kommenden Tagen. Ich bin gespannt. Vielleicht haben wir Glück, und es wird doch mehr als vermutet. Weil es eben um – DDR-Alltagskultur geht.
Da sind wir wieder am Anfang und damit auch gleich am Ende meiner Rede. Es gibt ein deutsches Literaturarchiv in Marbach und ein Sängermuseum hier in Feucchtwangen. Es gibt ein Sportmuseum in Leipzig. Es gibt seit 99 Jahren das Deutsche Hygiene-Museum in Dresden, ja: und es gab in der DDR bis 1990 eine „Sammlung industrielle Gestaltung“ im dann schleunigst abgeschafften Designzentrum des staatlichen Amtes für industrielle Formgestaltung am Bahnhof Friedrichstraße in Ostberlin, mit einem einzigartigen Sammlungsbestand deutscher Industriekultur ab dem 19. Jahrhundert. Warum um Himmels Willen gibt es bis heute kein Deutsches Design-Museum, kein Bundes-Design-Archiv, auch keine regionalen, interdisziplinär, also gesamtheitlich auf nationale Designgeschichte fokussierten ständigen (und aktuell wachsenden) Sammlungen und Museen im Westen, sondern bestenfalls Kunsthandwerk oder spezifische Produktsammlungen erfassende wie solche für Porzellan, Stühle oder Fahrzeuge?
Wer sich konkret, kompakt und kompetent über die Produkt- und Unternehmenskultur-Geschichte der seit Ende des 19. Jahrhunderts weltweit mit tonangebenden Industrienation Deutschland ein Bild vermitteln lassen will – wo kann er hingehen? Wie gesagt – Design-Archäologen könnten dereinst zu dem Trugschluss kommen: „Deutsches Industriedesign? Gab es nur im 20. Jahrhundert, und wohl nur im Osten. Dort stehen die Museen.“[/paycontent]