König Spitzbart auf dem Topfmarkt

Vom Ritt der Kulturstalinisten gegen schwarze Kannen, weiße Vasen und mehr

 

Liebe Hedwig-Bollhagen-Gemeinde, liebe Gäste,

zunächst möchte ich mich beim Vereinsvorstand für die Ehre bedanken, eingeladen worden zu sein, um heute vor Ihnen zu sprechen. Und ich muss Ihnen gestehen, dass ich nicht nur überrascht war von diesem Angebot, sondern auch im Zweifel, ob es denn hier wirklich den Richtigen getroffen haben mochte: Ich bin kein Keramik-Fachmann und weder ein eingeschriebener Protagonist noch ein wohlfeiler Kritiker der Lebensleistungen Hedwig Bollhagens und ihrer künstlerischen Erben. Ich sehe mich als Kulturjournalist und Publizist seit vier Jahrzehnten vielmehr der Geschichtsschreibung und aktuellen kritischen Betrachtung des industriellen Produktdesigns verpflichtet, besonders hier der ostdeutschen Erzeugniskultur zwischen 1945 und 1990. Wobei ich mich allerdings zu den Verfechtern jener Überzeugung zähle, dass Kunsthandwerk, Manufaktur und industrielle Formgestaltung sich nicht durch die Unterschiede in ihrem Schaffens- und Rezeptionsprozess definieren oder gar grundsätzlich getrennte Wege und Ziele verfolgen, sondern Verwandte ersten Grades sind, in Freud und Leid eng verbunden. Ich werde übrigens im Verlaufe meiner Ausführungen dafür auch Beispiele benennen. Schließlich stehen gerade die Persönlichkeit und das Werk Hedwig Bollhagens selbst für die Durchdringung von individueller künstlerischer, kunsthandwerklicher Intuition und ganz praktisch in der funktionalen Gebrauchsserie orientiertem „Dienst am Kunden“, seien dies der Kultur-im-Heim-Genießer oder ein gesellschaftlicher Kunst-am-Bau-Auftraggeber.[paycontent]

Was nun könnte ich Ihnen heute zu sagen haben als Seiteneinsteiger in Ihren Kenner-Kreis, fragte ich mich also. Was könnte ich zu sagen haben, was verbindet sich für mich, den Designkritiker und Kulturjournalisten, vor allem mit dem Namen Hedwig Bollhagen? Und was daran könnte für Sie, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, von Interesse, vielleicht gar von Wahrnehmungsgewinn sein?

„Meine“ Hedwig Bollhagen, das sind besonders ihre beiden Service Form 561 (von 1956) und 558 (von 1961). Beim 561 ist es die Anmutung, die Erinnerung an Formenbeispiele aus dem Kreis des Bauhauses, die mich anzieht. Konnte und kann ich mir von den Bauhaus- und Dornburger Ikonen kein einziges Stück als Besitz je leisten, so doch vor rund 25 Jahren jenes gesamte Mokkaservice aus Marwitz, und es war kein Abklatsch, eben kein „wie Bauhaus“, sondern ganz eigenständig anmutig-handfest, Bollhagen-bodenständig.

Das Neue Deutschland kontra neue Formen

Anders mein Zugang zum 558er Service. Der geschah, als ich mich in den 1970er Jahren als junger Rundfunkredakteur und als Autor beim Berliner Sonntag und der Weltbühne neben der Literatur- und Kunstkritik zunehmend auch mit der DDR-Designrealität und -Designgeschichte befasste und da beim Tiefergraben auf irritierende Befunde stieß. Stichworte: „Formalismusdebatte“, „Funktionalismus-Diskussion“, „Bauhaus- und Werkbund-Rezeption“. Und diese Steine des Anstoßes lagen damals noch nicht so offen zutage wie heute. So entdeckte ich eher zufällig im Zeitschriftenarchiv des Staatlichen Rundfunkkomitees die Auslassungen im Neuen Deutschland vom Oktober 1962 über die Präsentation von Kunsthandwerk und industrieller Formgebung auf der V. Deutschen Kunstausstellung in Dresden, Überschrift: „Hinter dem Leben zurück“. Den Kennerinnen und Kennern unter Ihnen sind die in dem Artikel enthaltenen Tiraden natürlich geläufig wie auch das Leser-Echo darauf, aus dem drei Monate später an gleicher Stelle zitiert wurde. Für diejenigen, die womöglich heute ebenso wenig davon gehört bzw. gelesen haben wie ich seinerzeit, sei aber doch noch einmal so viel zitiert:

„Die Jury, unter Vorsitz von Prof. Horst Michel, hat die Auswahl unter den eingereichten Exponaten so getroffen, dass Erzeugnisse, deren kühl-nüchterne Formen zur Verarmung und in vielen Fällen zu unkünstlerischen Lösungen führen, die Linie der Ausstellung bestimmen.“ Und weiter: „Fangen wir mit dem krassesten Fall an. Hubert Petras aus Meißen deklariert einige abgeschnittene weiße Porzellanröhren als Vasen. (…) Das Weiß von Petras – ohne jedes Dekor – ist nichts weiter als die physikalische Summierung sämtlicher Farben, kalt, glatt, nichtssagend. Diese Vasen haben mit Kunst nichts mehr zu tun, denn jede sinnlich-ästhetische Wirkung wurde eliminiert. Übrig blieb kalter Funktionalismus, eine Spielart des Formalismus (…)“

In diesem Stil geht es weiter, die halbe große ND-Seite lang; die Zwischenüberschriften wie „Stoffe in Grau“, „Dunkle Gläser“, „Trübe Quellen“ geben den Takt an. Und auch Hedwig Bollhagen bekommt ihr Fett ab, das liest sich so: „…ist nicht bezeichnend, dass Hedwig Bollhagen – bekannt als Formerin der geschmackvollsten, in frohen Farben gehaltenen Kaffeeservice – auf der Ausstellung nur mit einem Kaffeegeschirr in Schwarz vertreten ist? Sie kannte offensichtlich ihre Pappenheimer in der Jury und richtete sich danach. In diesem kleinen Beispiel spiegelt sich die politisch-künstlerische Misere der Ausstellung in ihrem ganzen Ausmaß.“ – Es geht hier um das Service 558, dessen Kanne ich im antiquarisch erstandenen Katalog zur V. Deutschen Kunstausstellung abgebildet fand und das ich nun, rund 15 Jahre später, im Kunsthandel wiederholt vergeblich zu ergattern versuchte.

Ebenso erfolglos verlief meine Fahndung nach den Rundfunk-Phono-Fernsehkomponenten des Berliner Formgestalters Jürgen Peters, die ich im Katalog fand und dann auch in Veröffentlichungen von DDR-Illustrierten der Sechzigerjahre wie „Kultur im Heim“. Die serienreif entwickelten Geräte waren nämlich bei RFT in Radeberg gar nicht erst in Produktion gegangen, nachdem der ND-Autor und SED-Kulturfunktionär Karl-Heinz Hagen sie folgendermaßen gegeißelt hatte: „Hartkantig, geometrisch hat Jürgen Peters sein Radiogerät Stereo-72 geformt, das in einem elektromedizinischen Therapieraum sich kaum von anderen Geräten unterscheiden und deshalb auch dort hineinpassen würde. Aber eine Wohnung ist doch kein Labor. Ist die Jury wirklich der Meinung, dass eine derartige ,Versachlichung’ der Wohnsphäre übereinstimmt mit dem optimistischen Lebensgefühl des sozialistischen Menschen?“

In der von mir bereits erwähnten zweiten ND-Veröffentlichung zur Kunstausstellung, ein Vierteljahr später und mit Lesermeinungen zum Hagen-Artikel sowie zur Schau im Dresdner Albertinum und Johanneum, kam die Redaktion nicht umhin, doch auch diese ironische Entgegnung der namhaften Bühnenkünstlerin Gisela May abzudrucken: „Mit ideologischem Vorschlaghammer wurden harmlose, klargeformte weiße Vasen zertrümmert. Liebhaber für graue Farben und Stoffe wissen nun, wenn sie es bis dahin noch nicht wussten, dass sie nicht positiv und optimistisch in den Sozialismus schauen – und wer gar den absurden Wunsch hätte, aus dem schwarzen Kaffeeservice Kaffee zu trinken, der muss nun endlich wissen, dass er auch eine schwarze Seele hat. Um wie viel mehr müssen die Schöpfer und Entwerfer all dieser verwerflichen Gebrauchsgegenstände ihre Haltung und ihre Parteilichkeit überprüfen, zumal sie keine Dekors: das heißt Vorbilder aus Natur und Arbeit verwendeten: also vielleicht keine Mähdrescher oder Schmelzöfen auf Sesselbezügen. Auf letzteren säße man dann besonders warm.“

Wie Hedwig Bollhagen damals im Marwitzer Mitarbeiterkreis auf die Partei-Attacken (die im ND war ja zwar die erste, aber nicht die einzige) reagiert hat – ich weiß es nicht. Jedenfalls schuf sie nun ganz gelassen auch „farbenfroh“ dekorierte Varianten, neben den schwarzen und weißen Erstausgaben, und ich könnte mir vorstellen, sie schmunzelte dabei.

Scherbengericht in Wallendorf

Anders hingegen Hubert Petras, ein zeitlebens besonders sensibler Keramik-, Porzellan- und Glasmacher, damals ein junger obendrein. Er bekam nach dem ND-Verdikt Jahre lang als Gestalter keinen Fuß auf den Boden beziehungsweise kein Gefäß in eine Ausstellungsgalerie. Betriebsleiter Habedank des VEB Porzellanwerk Wallendorf, wo die inkriminierten weißen Röhrenvasen hergestellt worden waren, nahm sich auf den Vorwurf des staatlichen Außenhandels hin, er betreibe mit der aufwendigen, unsinnig luxuriösen Produktion von weißem Zierporzellan Wirtschafts- und Handelssabotage, das Leben. Fortan wurden in Wallendorf die weiß gedachten Porzellanzylinder und andere moderne Vasenformen von Künstlern wie Ilse Decho, Margarete Jahny, Astrid Löffler, Hans Merz, Gottfried Stöhr oder Ludwig Zepner entweder (zumindest zeitweilig) aus dem Programm genommen oder durch „volksnahe“ und vor allem im Außenhandelsgeschäft risikolos Transfer-Rubel, Dollar und D-Mark einspielende Dekore „veredelt“. Eine Praxis, die auch bei anderen Keramik-, Porzellan- und Glasentwürfen geübt wurde, jetzt aber noch ausufernder als ohnehin gängig. Drastisch demonstriert es uns das Beispiel des einzigartig eleganten Freiberger Porzellanservices „Daphne“ von Ilse Decho aus dem Jahr 1964, dessen Kannen-Silhouette übrigens eine gewisse Verwandtschaft mit der Bollhagen-Form 558 aufweist.

Im Folgenden möchte ich mit Ihnen gemeinsam aber den Blick gewissermaßen wieder über den Porzellanrand hinaus erheben, eine Umschau halten auf die allgemeine Situation der so genannten angewandten Kunst in der DDR der Sechzigerjahre. Ich gebrauche den damals landläufigen und heute nun etwas antiquierten Begriff „angewandte Kunst“ hier ganz bewusst. Denn er umfasst im allgemeinen Verständnis immer noch das als Klammer, was ich Anfangs als „Verwandte ersten Grades“ bezeichnete: Kunsthandwerk, künstlerisch geprägte Manufakturpraxis und industrielle Formgestaltung.

Ich erwähnte vorhin, das ND-Pamphlet sei nicht eine einmalige Entgleisung gewesen. Es war aber auch nicht an dem, dass seine Substanz nur eben mal so aus dem Hirn eines närrischen Dogmatikers in die Feder geflossen wäre. Nein, die Argumentationsvorlage für das SED-Zentralorgan kam auch hier einmal mehr direkt von oben, in diesem Falle von ganz oben sogar, von Walter Ulbricht. Der hatte schon während des Eröffnungsrundgangs in Dresden laut vernehmlich gemosert über die Röhrenvasen und das andere moderne, vermeintlich westlich-dekadent angehauchte Zeug in der Abteilung „Angewandte Kunst“. So viel Weiß und Schwarz und Grau – da sah er rot. Hier machten die Kunsthandwerker und Formgestalter offensichtlich ihr eigenes „Ding“, im wahrsten Sinne des Wortes, während doch hingegen die so genannte bildende Kunst mittlerweile weitestgehend auf Vordermann gebracht worden war, auf den sozialistischen Realismus sowjetischer Prägung. Was übrigens auch der Hagen-Artikel den Formgestaltern mahnend vorhielt.

Ulbricht vermöbelt Hellerau

Nun war Ulbricht aber leider auch noch gelernter Tischler alter Schule und meinte deshalb recht kompetent zu sein, wenn es um Käufergeschmack und Produktqualität ging. So auch bereits 1956 auf der Leipziger Herbstmesse, wo die neue Hellerauer Typensatz-Serie 602 präsentiert wurde, entworfen vom ehemaligen Bauhäusler, Kommunisten und antifaschistischen Widerstandskämpfer Franz Ehrlich. Hier veranstaltete der SED-Generalsekretär noch vor dem offiziellen Messerundgang der Parteiführung ein Riesentheater wegen dieser „unmöglichen Kastenmöbel“, ließ die Messeleitung und die Werksvertreter antanzen und verlangte die Einstellung der Produktion, die doch kein vernünftiger Mensch abnehmen würde. Gesenkten Hauptes schlichen die Verantwortlichen damals aus dem Rapport, entfernten die Kastenmöbel vom Messestand – und ließen nach einer ihnen angemessen erscheinenden Abstandsfrist dann doch die Maschinen dafür in Hellerau anlaufen. Denn: die Nachfrage in Handel und Bevölkerung in puncto 602 war schon zu gewaltig, als dass man noch einen Rückzieher hätte machen können. Ein Riesengeschäftserfolg stand hier in Aussicht und wurde es auch. Heute gilt diese Hellerauer Serie übrigens als ein Klassiker der europäischen Nachkriegs-Moderne und wird auf internationalen Kunstauktionen gehandelt.

Auch bei anderen Gelegenheiten sahen sich Ulbricht und seine sozialistischen Kulturtempelwächter immer mal wieder ausgetrickst vom ostdeutschen Künstlervolk. (Ich erinnere da mit besonderem Vergnügen an die Sache mit Waldemar Grzimeks in Marwitz gefertigten „Säulenheiligen“ Walter Ulbricht, Kurt Hager, Hilde Benjamin und Paul Verner im Kloster Chorin.) Die vorsichtig wieder zunehmende Popularisierung von am Bauhaus sowie an skandinavischen und anderen westlichen Vorbildern orientierter moderner DDR-Wohnkultur in Illustrierten und Publikumszeitschriften wie dem „Magazin“ Ende der Fünfziger-, Anfang der Sechzigerjahre wurde mit Argwohn wahrgenommen, und nun – 1962 und damit gerade erst einmal zehn Jahre nach der vermeintlich durch die stalinistischen Ideologen gewonnenen Antiformalismus- und Antifunktionalismus-Schlacht – wagten es Kunsthandwerker und Industrieformgestalter erneut, überkommenen Traditionen vom Gemütlich-Verschwiemelten bis zum Heroisch-Geschwollenen massiv entgegenzutreten mit klaren, ehrlichen und modernen Nutzeransprüchen gerecht werdenden Produktentwürfen. Und dies ausgerechnet auf der ersten zentralen DDR-Kunstschau nach der ultimativen Abgrenzung zum Westen per Mauerbau und Drahtverhau!

Damit war das Maß wieder einmal voll, und wie im Märchen vom König Drosselbart preschte jetzt König Spitzbart in Kannen und Vasen hinein, um den Hochmut der Schöpfer, dieser abgehobenen, widerspenstigen Intellektuellen zu brechen. (Anderen mag hier das Bild vom Elefanten im Porzellanladen in den Sinn kommen; das aber wäre in diesem Falle unzutreffend: Der Elefant ist anders als Ulbricht hier als eigentlich harmloser Tölpel irgendwie hineingeraten, und wo er sich vielleicht sogar mit dem Rüssel in Acht nimmt, schmeißt er mit dem Hintern Vitrinen um.)

Allerdings: auch diesmal blieb der harsche direkte Einfluss von Partei und Regierung auf den Gang der Moderne in der Industriekultur der DDR letzten Endes begrenzt. Einmal noch, vier Jahre später auf der VI. Kunstausstellung der DDR in Dresden, ließ Ulbricht seinen Groll über eine weitere Hellerauer Möbelneuheit laut werden, nämlich das hier erstmals vorgestellte Montagemöbelprogramm MDW: „Was sollen denn diese Bretter da, das sind doch keine Möbel“, so oder ähnlich maulte er beim Ausstellungs-Eröffnungsrundgang. Und da geschah Folgendes: Im Tross befand sich Martin Kelm, der damalige Leiter des Berliner Zentralinstituts für Gestaltung, aus dem dann 1972 das staatliche Amt für industrielle Formgestaltung hervor ging. Kelm spazierte zufällig gerade im Augenblick des heftigen Einwurfs von Walter Ulbricht weiter hinten, direkt neben dessen Gattin Lotte, im Schwarm mit und knurrte zwischen den Zähnen, aber doch bewusst vernehmbar, seinen Widerspruch hinaus: „Das ist doch Unsinn! Der soll sich die Sachen erst mal schildern lassen, ehe er ein Urteil im Vorübergehen abgibt! Der hat doch keine Ahnung, was dahinter steckt bei diesem System…“ – Wie beabsichtigt schnappte dies die hellhörige Lotte Ulbricht auf, fasste Kelm am Arm und schob sich mit ihm nach vorn an die Spitze: „Hier Walter“, sagte sie, „ist ein junger Mann, der dir erklären möchte, was es mit den Brettern auf sich hat“. Und Kelm, später Leiter des AIF und Staatssekretär unter Honecker, erklärte, und Ulbricht gab, zwar immer noch mürrisch, Ruhe. MDW wurde nicht abgeblasen wie seinerzeit zunächst die Hellerauer Serie 602, MDW wurde schließlich das im 20. Jahrhundert am längsten und in mehreren neuen funktionellen und formellen Variationen produzierte Systemmöbelprogramm Europas, nämlich von 1968 bis 1993.

DDR-Industriekultur im Umbruch

Der 1971 auf Ulbricht folgende Erich Honecker als Partei- und Staats-Chef wie auch sein Wirtschaftslenker Günter Mittag und Chefideologe Kurt Hager hielten sich während ihrer gemeinsamen Amtszeit weitgehend aus Bekundungen oder gar Anordnungen in Sachen Kunsthandwerk und Design heraus. Sie waren da leidenschaftslos, um es freundlich zu umschreiben, und ließen eben „die machen, die etwas davon verstehen“. Nur herrschte unter jenen „Verständigen“ eben auch ein durchaus unterschiedliches Verständnis, was in den Betrieben und Manufakturen an Produktkultur zu fördern und was zurückzuwinken war.

Während in den Marwitzer Werkstätten vom Gefäß bis zur baugebundenen Kunst Kontinuität im Schaffensprozess und kein Mangel an Aufträgen, Experimenten und freien künstlerischen Mitstreiterinnen und Mitstreitern herrschte, wurde hingegen die Industrielandschaft und damit auch die Industriekultur der DDR ab Anfang der Siebzigerjahre immer wieder tiefen strukturellen Eingriffen unterzogen. So gut wie alle noch bestehenden so genannten halbstaatlichen oder privaten kleinen und mittleren Betriebe enteignete man und band sie ein in die neuen „volkseigenen“ Kombinatsstrukturen, sprich staatlichen Konzerne. Das bedeutete nicht zuletzt auch die Drosselung und Vernichtung großer schöpferischer Potenziale und unternehmerischen Wagemuts, die gerade in den kleinen Leitungsbüros solcher Unternehmen bis da hin zu Hause waren. Ich nenne hier nur die Limbach-Oberfrohnaer Firma Gerätebau Hempel, deren Radiogeräte und -anlagen der Marke HELI (Slogan: „Radio mit Ratio“) schlechthin die Pioniere eines zeitgemäßen Rundfunkgeräte-Designs in der DDR der Sechziger- und Siebzigerjahre waren und nun zum reinen RFT-Anhängsel mit Designmehrwert wurden. In blendendem Ruf stehende Namen wurden nach und nach eliminiert wie etwa jener der Potsdamer Stahl- und Sitzmöbelfirma Röhl, für die der MDW-Gestalter Rudolf Horn 1965 einen sensationellen Leder-Freischwinger als Gegenentwurf zum starren Barcelona-Chair Mies van der Rohes entwarf. Der wurde fast ausschließlich in große Hotel-Lobbys des Westens exportiert, hielt aber mit einigen Exemplaren interessanterweise auch Einzug in Wartebereiche des Berliner ZK-Gebäudes am Werderschen Markt.

Die Zentralisierung und Kommandierung der DDR-Wirtschaft und auch ihres Design-Gesamterscheinungsbildes nahm weiter ihren fatalen Lauf, hinzu kamen gravierende ökonomische und alltagskulturelle Auswirkungen durch das 1971 beschlossene so genannte RGW-Komplexprogramm, in dessen Verlauf die DDR einige bis dato sehr gut funktionierende und auch zukunftsträchtige Produktionsstrecken unter dem Etikett der „internationalen Arbeitsteilung“ den Volkswirtschaften anderer „Bruderländer“ vollständig zu überlassen hatte.

Dies und nicht zuletzt die gebetsmühlenartig wiederholte Forderung von Partei und Regierung nach aktueller „Weltmarktfähigkeit“ waren jetzt die Rahmenbedingungen für Designpolitik und -strategie in der DDR der 1970er und 1980er Jahre. Da erübrigten sich Eingriffe und Restriktionen durch politische Personen und Medien wie anno dunnemals 1962/63. Die Designaufgaben und -prozesse regelten nun Gesetzblätter, Anordnungen und Pflichtenhefte, der staatliche Außenhandel als Devisenbeschaffer war längst die Dritte Gewalt in den Betrieben und Kombinaten, das Amt für industrielle Formgestaltung zunehmend Anleitungs- und Kontrollorgan und die Design-Pioniere und -Streiter von einst wurden abgelöst durch eine neue, pragmatische Generation von Diplomformgestaltern, fest angestellt in der Wirtschaft. Wer von ihnen das Glück hatte, auf kulturell aufgeschlossene Werkleiter und Kombinatsdirektoren zu treffen, hatte durchaus Entfaltungsmöglichkeiten. Die waren übrigens in der exportintensiven Investitionsgüterindustrie unvergleichlich größer (denn hier galt das Raymond Loewy-Wort „Hässlichkeit verkauft sich schlecht“) als bei den Konsumgüterproduzenten. Dort war aus der Aufbruch-Losung der frühen Fünfzigerjahre „Das Beste für den Werktätigen“ längst die Praxis „Die Reste für den Werktätigen“ geworden. Und wenn doch einmal einer oder eine auf die verrückte Idee kam, etwas ganz Gediegenes, etwas besonders Nützliches und Nettes außer der Reihe zu entwerfen, dann ging das ja auch. Die regelmäßigen Bezirkskunstausstellungen und zentralen Kunstausstellungen der DDR waren voll von solchen Entwürfen. Und die Modell-Archive der Designer ausbildenden Kunsthochschulen. Und die Arbeitstische der zahlreichen thematischen Workshop-Seminare in den Achtzigerjahren am Bauhaus in Dessau. Nur ins Leben hinaus traten diese Schöpfungen in den seltensten Fällen. Keine Kapazitäten, keine Leute, zu riskant, wehrte die Industrie ab. Kinkerlitzchen, sagten die Funktionäre. Da war am Ende eben nichts zu machen.

Epilog

Was leben wir doch heute in ganz anderen Zeiten. Keine Partei funkt mehr hinein, ob etwas gescheites Schönes, dauerhaft Nützliches unter die Leute kommt oder nicht. Schauen wir uns doch um in den real existierenden und den virtuellen Einkaufspalästen, wie es nur so wimmelt von intelligenten, preiswerten und uns dauerhaft ergötzenden und zuverlässig dienenden funktional-ästhetischen Lebensbegleitern. Kein Schund nirgends. Oder? Seht doch hin: Und alles, alles ist „Design“! Was sich hier in die Auslagen einreihen darf und was da keine Chance verdient, das regelt jetzt ­– „der Markt“. Gnadenlos.

Und der Markt, ja der Markt, der hat immer Recht. Da ist einfach nichts zu machen.

Günter Höhne

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(Vortrag vor der Jahrsmitgliederversammlung der Hedwig Bollhagen Gesellschaft Potsdam am 12. 11. 2011)

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