Prenzlauer Berg und Jammertal

Ab heute in der KulturBrauerei: Zeitzeugnisse der 80er Jahre über einen verhinderten Dialog zur Stadterneuerung

 

Wenn einmal eine tiefergehende Pressegeschichte der DDR geschrieben wird, sollte zum Thema „Zensur“ ein maßgebliches Faktum zu untersuchen und zu bewerten sein: Die „Auslese-Gruppe“ der Abteilung Agitation und Propaganda beim ZK der SED. Es war dies, wie vielleicht zu vermuten wäre, nicht etwa ein auserlesener Trupp besonders qualifizierter und erfahrener rhetorischer Vorreiter in der ideologischen Auseinandersetzung mit den „Klassenfeind“, sondern ein Häufchen armseliger Polit-Bürokraten, das jeden Morgen, den Ulbricht und Honecker werden ließen, sämtliche Tageszeitungen und journalistischen Massen-Periodika der DDR ausschließlich auf „Fehler“ zu durchforsten hatte. Das betraf das ND wie die Blockpresse, den Eulenspiegel wie die Wochenpost, die Weltbühne wie das Magazin oder den Sonntag. Und Druckfehler wie der satztechnische „Dreher“, der das ZK zum KZ werden ließ, oder die Auslassung, die aus Erich Honecker einen Erich Hocker machte, wurden als subversive Angriffe auf die Partei mit Entlassung der Verantwortlichen und Schlimmerem bestraft. Regelmäßig donnerstags war im Haus am Werderschen Markt für die Chefredakteure Ausgabe der neuesten „Argu“ und Gerichtstag darüber, was die Argu(s)augen der Ausleser anzukreiden hatten. Da war das große Abducken unter Zuchtmeister Gäckels Stockhieben angesagt, der mit der Auswahl seiner Opfer stets zu überraschen wußte.

Glücklich konnten sich jene verantwortlichen Redakteure und Autoren schätzen, die ihr „Presseerzeugnis“ in einer halbwegs verborgenen Fachnische in Miniauflagen produzierten und die dem wöchentlichen Rapport im ZK fernbleiben durften. Dazu gehörte auch die vom Amt für industrielle Formgestaltung (AIF) in Ostberlin herausgegebene und sechsmal im Jahr erscheinende Design-Fachzeitschrift form + zweck. Mit Eröffnung ihres 15. Jahrgangs 1983 sorgte sie dennoch in Gäckels Dressurrunde für helle Aufregung und stand kurz vor dem Aus. Der anlaufende Vertrieb der Ausgabe 1/83 mit dem Titel „Innerstädtische Rekonstruktion“ wurde gestoppt und die gesamte Auflage konfisziert. Was war geschehen?[paycontent]

Auf 40 der 48 Heftseiten und einer von Grafiker Manfred Butzmann gestalteten Beilage hatten über ein Dutzend Text- und Bildautoren eine gemäßigt-kritische, durch und durch sachliche Bestandsaufnahme öffentlicher Alltagskultur im Stadtbezirk Prenzlauer Berg vorgenommen sowie gestalterische und soziale Analysen und Entwicklungsstudien für den Stadtbezirk veröffentlicht. Da war der einleitende Beitrag mit der Anregung betitelt: „Von sozialen Prozessen ausgehen“, ein anderer „Kunstwerk Schönhauser?“, ein nächster „Die Würde der Fassade“. Daß es bei form + zweck in und zwischen den Druckzeilen wenn auch keinen ideologischen Sprengstoff, so doch jedesmal viel nachhaltigen Denkstoff nicht nur für Design- und Architekturfachleute gab, war Herausgebern wie Lesern nicht neu. Neu war hinsichtlich Heft 1/83 und seines Themas, daß man sich hier eines komplexen Betrachtungsgegenstandes angenommen hatte, der von den „Auslesern“ in doppelter Hinsicht als gegenstandslos und dessen öffentliche Ausbreitung als parteischädigend bewertet wurde:

Zum einen war „Innerstädtische Rekonstruktion“, wie flächenmäßige Sanierung und Modernisierung in der DDR hieß, im Arbeiter-und-Bauern-Staat nie eine so weitgehend öffentliche Angelegenheit wie beispielsweise die „Behutsame Stadterneuerung Kreuzberg“ im Westteil der Stadt. Die offiziell behauptete „Mitwirkung der Nutzer“ erschöpfte sich vorrangig in „zunehmenden Eigenleistungen der Bürger im Rahmen der volkswirtschaftlichen Masseninitiative“. Gedanken des einen und anderen Beitrags im Heft hoben unter anderem auf (natürlich unausgesprochen gebliebene) Vorbilder wie den gemeinnützigen Verein SO 36 in Westberlin oder Experimente partizipatorischen Entwerfens und Bauens in Wien ab. Oder da wurde über wildes (!) Grün in der Stadt geschrieben und über die mehr und mehr vernachlässigten oder verschwindenden Pflastermosaiken in Prenzlauer Berg (die immer öfter komplett – für Devisen, versteht sich – in westeuropäische Länder verscherbelt wurden). Und der Chefredakteur selbst plädierte gar für die Einrichtung eines „ernsthaft arbeitenden“ und für „die Mitplanung der Nutzer und Wohner unerläßlichen Museums für Urbanität“ in Prenzlauer Berg.

Damit aber hatte form + zweck etwas getan, was eben jener vorwiegend diktatorisch-intern bewerkstelligten innerstädtischen Rekonstruktion in der DDR absolut in die Quere kam: Es stellte mit seinen Beiträgen Öffentlichkeit her – und das vor Inangriffnahme von „oben“ beschlossener „Reko-Maßnahmen“. Zudem waren die verbalen und visuellen Ergebnisse einer noch nicht abgenickten „Studie für die Leitplanung eines städtischen Teilgebiets in Prenzlauer Berg“ abgedruckt. In ihr fanden sich solche für die unablässig schiere Lebensfreude widerspiegelnde DDR-Presse uncharakteristischen Sätze wie: „Der Prenzlauer Berg ist zugleich häßlich und großartig, langweilig und interessant, gesichtslos und beeindruckend, abstoßend und herausfordernd, gehaßt und geliebt.“ Und das zudem auf ein innerstädtisches Projekt bezogen, das der damalige Berliner SED-Fürst Konrad Naumann zur höchsteigenen Chefsache erklärt hatte.

Der war es auch, der die Steinlawine gegen form + zweck ins Rollen brachte und das Heft form + zweck 1/83, mit zahlreichen empörten persönlichen Anmerkungen versehen (so: „Dieses Museum muß verhindert werden!“), als subersives Produkt den „zuständigen Genossen“ zum Studium und die Urheber einer entsprechenden Bearbeitung anempfahl. Architekten und weitere Mitarbeiter des Reko-Arbeitsstabes Prenzlauer Berg, die an den Beiträgen mitgewirkt hatten, wurden auf der Stelle entlassen, exemplarische Parteiverfahren angesetzt, Beteiligte krankenhausreif nieder„diskutiert“. Der Chefredakteur und sein Abteilungsleiter „Designförderung und Öffentlichkeitsarbeit“ im Amt für industrielle Formgestaltung entgingen nur knapp Hinauswurf und Parteiausschluß, dank vor allem der schützenden Hand des Leiters des AIF und Honecker-Jagdgefährten Staatssekretär Martin Kelm. Der konnte die von Naumann verlangte „Entfernung“ von Chefredakteur Hein Köster in eine Versetzung zur Abteilung „Designsammlung“ ummünden und nahm den Abteilungsleiter Burmeister als „Beauftragten des AIF für das Bauhaus Dessau“ aus der Schußlinie.

form + zweck als liberales Aushängeschild des AIF – zu etwa einem Fünftel seiner Auflage auch im Westen abonniert, wo es seiner fachlich ungewöhnlich substanziellen Themen wegen sehr geschätzt war – wurde zwar nicht von der Presseliste gestrichen, aber fortan einem amtsinternen „Auslese“-Verfahren vor jeder Drucklegung unterworfen. Erst nach drei Jahren gelang es dem subtil taktierenden Nachfolger des „umgesetzten“ Chefredakteurs (übrigens von diesem selbst vorgeschlagen und nicht „von anderer Seite“ hinkommandiert) unter Ins-Feld-Führen allzu oft nachgewiesener journalistischer Inkompetenz der „Ausleser“, dieses Verfahren vom Staatssekretär wieder außer Kraft setzen zu lassen.

Die form + zweck als Zeitschrift des AIF wurde mit dessen Abwicklung 1990 eingestellt. Die in 1/83 veröffentlichten Beiträge und Dokumente sowie die grafischen, aber auch bereits in Form von Modellen Gestalt gewordenen Entwürfe für die damals rigoros verhinderte innerstädtische Rekonstruktion in Prenzlauer Berg sind ab heute 16 Uhr in der Sammlung industrielle Gestaltung (Stiftung Stadtmuseum Berlin) im Nordflügel der KulturBrauerei nun erstmals von jedermann in Augenschein zu nehmen. Auch die erbärmlichen Originalzeugnisse einer zu spät gekommenen Zensur mit fatalen Auswirkungen – nicht nur für die Zeitschrift. Die Ausstellung, deren Exponate 13 Jahre nach ihrem Entstehen den derzeitigen Erneuerern von Prenzlauer Berg immer noch viele bedenkenswerte Anregungen bieten dürften, heißt „Dieses Museum muß verhindert werden!“. Gestaltet wurde sie vom Leiter der Sammlung Hein Köster, der also doch noch zu „seinem“ Museum in Prenzlauer Berg kam.

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(Rezension für „Der Tagesspiegel“, Berlin 1996)

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